Month: September 2016
28. September 2016
Auf frischem Müll den Skihang runter
Von Thomas Borchert

POLITIK
22. SEPTEMBER 2016
ALTERNATIVER NOBELPREIS
Die Mutmacher
Von THOMAS BORCHERT
Die Redaktion der Cumhuriyet wird nach unzähligen Drohungen gegen ihre Journalisten rund um die Uhr bewacht. Foto: dpa
Gegen jeden Widerstand retten sie Menschen, kämpfen für Meinungsfreiheit und gegen archaische Strukturen. Das sind die Träger des Alternativen Nobelpreises.
Die vier Träger der Alternativen Nobelpreise in diesem Jahr spiegeln Bedrohungen von Menschen und ihrer Freiheit an akuten Brennpunkten wieder: Die syrischen „Weißhelme“, ein Netzwerk von 3000 Freiwilligen, kämpfen unter Lebensgefahr um die Rettung von Verschütteten nach Bombenangriffen, dürfen aber in Städten unter Kontrolle des Assad-Regimes nicht ausrücken. Read the rest of this entry »
- September 2016
„Fucking wütend“ hinter Gittern
Von Thomas Borchert
Zu viel Druck von zu vielen Seiten: Yahya Hassan. Foto: imago/Dean Pictures
Dänemarks junger Ausnahmedichter Yahya Hassan wird für Schüsse auf seinen Verfolger verurteilt.
Fucking wütend auf meine Elterngeneration“ hat Yahya Hassan als 18-Jähriger unwiderstehlich sprachgewaltig und enorm selbstbewusst die öffentliche Bühne in seinem Land wie ein Superstar erobert. Mit 21 legt Dänemarks meistgelesener Lyriker, Sohn palästinensischer Flüchtlinge, jetzt eine Pause ein – zwangsweise. Ein Gericht in Aarhus verurteilte Hassan am Freitag zu 21 Monaten Haft, weil er einem hartnäckigen jungen Verfolger in den Fuß schoss.
Auf den steilen Aufstieg ist ein genauso steiler Abstieg gefolgt. Der Jubel, als Yahya Hassan die im Populismus erstarrte dänische Debatte um Zuwanderung und Integration wieder antrieb, ist verstummt. Am Ende blieben die 35 Anklagepunkte. Von Zechprellerei über wiederholtes Autofahren ohne Führerschein (dafür mit Haschisch im Blut), Stalking der Ex-Freundin, Schlägereien bis zu Schießen ohne Waffenschein.
„Er ist der wichtigste Dichter unserer Zeit, der (…) die gesellschaftliche Kraft der Literatur in der Gesellschaft bewiesen hat,“ befand der Kulturchef der Zeitung „Politiken“, Jes Stein Pedersen. Gemessen an der Bevölkerungszahl entspricht die Verkaufszahl der Gedichtsammlung Hassans einer deutschen Auflage von 1,8 Millionen. 120 000 Dänen konnten in der poetischen, gnadenlosen und streckenweise herzzerreißenden Abrechnung mit der Elterngeneration in den Migranten-„Ghettos“ lesen: „Denn neulich schlug Vater meine Schwestern nieder auf offener Straße. Er war zurückgezogen ins alte Ghetto. (…) Er ist islamisch verheiratet, aber getrennt lebend bei der Kommune. So dass seine Frau eine alleinstehende Mutter ist bei der Sozialbehörde.“ Und: „Wir hatten keinen Plan, denn Allah hatte Pläne für uns.“
Ganz Dänemark, von rechts bis weit nach links, bestaunte diesen auch im TV-Interview unerschrockenen, sprachgewandten und reaktionsschnellen jungen Mann, der sich einen Dreck um Konventionen scherte. Dann jubelte ganz Dänemark.
Die seit zwei Jahrzehnten dominierenden Rechtspopulisten nickten eifrig, weil ihre Anklagen gegen „muslimische Nassauer“ endlich aus erster Hand bestätigt wurden von einem, an dem keiner vorbei konnte. Die andere Seite freute sich unbändig, weil da eine unverbrauchte „authentische“ Stimme Integration ganz anders anging als mit ausgeleierten Jammerarien. Denn Hassan griff genauso gerne Rechtspopulisten und andere Islamophoben an wie einfache Heuchler: „Was will der dänische Kronprinz eigentlich beim fucking Staatsbegräbnis in Saudi-Arabien? Die enthaupten Menschen genau wie der ,Islamische Staat‘. Aber da haben wir Geschäftsinteressen.“
Nur nutzte das nichts bei denen, die von Hassans „eigener Community“ reden würden: Kurz nach Erscheinen der Gedichte wurde er das erste Mal von einem wegen islamistischen Terrors Vorbestraften zusammengeschlagen. Jugendgangs machten permanent Jagd auf ihn. Wegen Morddrohungen stellte der Geheimdienst dem Dichter zwei Leibwächter zur Seite.
Bei der kläglich gescheiterten Parlamentskandidatur für die von Zuwanderern gebildete „Nationalpartei“ 2015 überwogen schon die Schlagzeilen über kriminelle Aktivitäten. Hassan wurde der Leibwächter überdrüssig, sein Leben schien bald nur noch aus Straßenkampf mit ihn peinigenden Verfolgern und den inneren Dämonen zu bestehen. Auf Facebook präsentierte er sich seinen 129 000 Followern teils als schwer am Kopf blutendes Opfer von Schlägern, teils in Kampfuniform.
Der letzte Facebook-Eintrag im März, nach den Schüssen auf einen 17- Jährigen, und gleich fünfmal: „Ich sitze hier in Haft mit gebrochenem Schlüsselbein und Handgelenk. Hilfe. Muss operiert werden. Brauche Hilfe. Helft mir.“ Vor Gericht sagt Hassan ein halbes Jahr später, nach der Haft werde er viel ändern: „Ich muss wohl einfach von allem weg und aufs flache Land ziehen.“ Mit 21 sind vielleicht noch nicht alle Weichen endgültig gestellt.
Blind vor Prestigesucht
Von Thomas Borchert

Was kann der Stockholmer Medizin-Nobelpreis noch wert sein, wenn die Juroren schon im eigenen Alltag blind auf einen gewissenlosen Kurpfuscher hereinfallen? Vier Wochen vor der Vergabe der diesjährigen Nobelpreise hagelt es Rücktritte, Entlassungen sowie vernichtende Kritik von allen Seiten, weil das Karolinska Institut den italienischen „Starchirurgen“ Paolo Macchiariani jahrelang künstliche Luftröhren transplantieren ließ, obwohl ein Patient nach dem anderen starb und längst Alarm geschlagen war. Erst als eine TV-Dokumentation Anfang des Jahres den Tod von sechs Patienten bei acht Operationen, davon drei in Stockholm, aufdeckte, kam die Lawine ins Rollen. Der heimische Nobelpreisträger Arvid Carlsson sieht das Ergebnis als „das Schlimmste, was je in der Geschichte des Medizin-Nobelpreises passiert ist“. Der Schwedische Rundfunk kommentierte: „Das bringt das ganze Nobelsystem ins Wanken.
Die langjährige Institutschefin und Nobel-Jurorin Harriet Wallberg heuerte den Italiener 2010 an, nachdem ihn mehrere ihrer Stockholmer Fachkollegen, ebenfalls mit Sitz und Stimme in der „Nobelförsamling“, wärmstens als förderlich für das internationale Renommee von „Karolinska“ empfohlen hatten. Macchiarini, ein mediengewandter Experimental-Chirurge, wurde ohne Einstellungsgespräch oder andere zwingend vorgeschriebene Formalitäten eingestellt. Auch als die Eingriffe in Stockholm sowie in Russland durchweg fehlschlugen, reagierte die Institutsleitung auf warnende Stimmen vier eigener Ärzte nur mit Drohungen wegen „Illoyalität“.
Was dank der TV-Dokumentation ans Licht kam, ließ die ersten Warnungen wegen Unwahrheiten in Fachartikeln als harmloses Vorgeplänkel verblassen: Macchiarini hatte Patienten ohne akute Not zu der lebensgefährlichen und rein experimentellen Operation überredet. Teile seines wissenschaftlichen Lebenslaufes waren gefälscht. Schon 2012 ermittelte die italienische Polizei wegen Betrugs und Erpressung von Patienten. Am Ende machte der Chirurg auch noch Schlagzeilen als Heiratsschwindler.
Er schwatzte einer US-Journalistin die Hochzeitsfeier mit Papst Franziskus für den Ringtausch und den Ehepaaren Clinton sowie Obama als Gästen auf. Das Opfer hat es „Vanity Fair“ ausführlich geschildert. Dass er schwedischen Professoren seine „revolutionären“ Luftröhren genauso erfolgreich aufschwatzen konnte, wird dort als Ergebnis von Prestigesucht gesehen. „Die Jagd nach einem Nobelpreis für das Karolinska Institut selbst hat die Führung blind gemacht,“ schrieb „Dagens Nyheter“.
Man denke an „Catch Me If You Can“
Wer einmal mit „Meistermanipulatoren“ zu tun gehabt habe, wisse, wie leicht so etwas geht. Man denke nur an den von Leonardo di Caprio nach einer wahren Geschichte gespielten Hochstapler in „Catch Me If You Can“. Der konnte sich auch zu Jobs als Pilot und Krankenhausarzt durchschwatzen. Das ist keine gute Werbung für die 50 stimmberechtigten Nobel-Juroren vom Karolinska Institut.
Mehrere Mitglieder sind in den letzten Monaten wegen des Macchiarini-Skandals zurückgetreten. Harriet Wallberg wurde am Montag von der schwedischen Regierung als Universitätskanzlerin gefeuert. Einen Tag später bekam sie die Aufforderung zum Rücktritt aus dem Nobelgremium. Andere hoffen, mit einer freiwilligen „Auszeit“ durchzukommen.
Die beiden Mediziner, die Wallberg den italienischen Wunderchirurgen besonders ans Herz gelegt hatten, sind mit Sitz und Stimme dabei, wenn am 4. Oktober am Nobelvägan 1 in Stockholm über den diesjährigen Nobelpreis abgestimmt wird.
„Christiania“: Schüsse in Kopenhagens Großkommune
Von Thomas Borchert

Die Nachrichten über Schüsse in der „Freistadt Christiania“ klangen für Kopenhagener zum Donnerstags-Frühstück fast wie nach einem Terroranschlag. Erst die lebensgefährliche Kopfverletzung eines Polizisten, der einen Haschisch-Dealer festnehmen wollte. Dann bei der nächtlichen Jagd auf den geflüchteten Täter die Absperrung eines kompletten Stadtteils „mit allen verfügbaren Kräften“, wie die Polizei verkündete.
Sieben Stunden später schlagen Antiterrorspezialisten vor einer Wohnung zu und verletzen den Gesuchten durch Schüsse ebenfalls lebensgefährlich. Das Fernsehen schaltet Sondersendungen. Hier verkündet Dänemarks Justizminister Søren Pind „das Ende des friedlichen Weges“ gegenüber der 1971 gestarteten Großkommune auf einem besetzten Kasernengelände: „Wir haben ihn lange genug ausprobiert. Jetzt hat er uns lebensbedrohliche Schüsse eingebracht. Der mitunter als selbsternannter „Sheriff“ bespöttelte Minister konnte sich nicht nur breiter Unterstützung im Parlament sicher sein. Auch die dänische Öffentlichkeit, seit Jahrzehnten heftig entzweit über Toleranz oder Härte gegenüber dem sozialen Experiment Christiania, dürfte in diesem Fall hinter Pinds noch unkonkreter Kampfansage stehen. Zu oft haben es die 900 „Christianitter“ mit ihrer autonomen Selbstverwaltung das Versprechen nicht erfüllt, selbst mit den hochkriminellen Drogenhandel auf ihrem Gelände fertigzuwerden.
Schwarzarbeit im Drogenhandel
Nicht besser machte es die Christiana-Sprecherin Kirsten Larsen mit ihrem Kommentar, bei dem nichts mehr übrig war von Pioniergeist oder Hippie-Idealen: „Wir sind ganz normale Bürger und können nicht die Verantwortung für Dinge übernehmen, bei denen die Polizei zuständig ist.
Gemeint ist die „Pusherstreet“ im Herzen der 34 Hektar großen „Freistadt“ mit ihren Buden zum Haschischhandel. Während sich sonst die einstigen Kasernenstürmer und der Staat nach und nach halbwegs friedlich auf Kompromisse bei der Legalisierung Christianias einigen konnten, ist die Drogendealerei immer mehr aus dem Ruder gelaufen. Vor allem Rockergruppen organisieren ihn größtenteils von außen und scheffeln Unsummen mithilfe ihrer maskierten jungen Gehilfen in Christiania.
Einer von ihnen zog am späten Mittwochabend eine Pistole, als zwei Zivilstreifen ihn, so die Polizei, „routinemäßig“ festnehmen wollten. Er traf einen Beamten in den Kopf, einen weiteren sowie einen Unbeteiligten jeweils ins Bein. Diese Form von Gewalt ist neu im Dauerkrieg der Polizei gegen die Pusherstreet. Gerade erst im Juni hatte sie bei eine der regelmäßigen Großrazzien alle Verkaufsstände zerstört und eine Menge Händler festgenommen. Einen Tag später waren die Buden neu aufgebaut und andere Maskierte hinter den improvisierten Tresen mit ihrer Ware verkaufsbereit. Vor allem junge Bewohner der „Freistadt“, die nach wie vor selbst über den Einzug neuer Bewohner entscheiden kann, lassen sich zu Schwarzarbeit im kriminellen Drogenhandel locken.
Kenner schätzen, dass die Hälfte der Christiania-Ökonomie an dieser Branche hängt. Die andere wichtigste Einnahmequelle ist der Tourismus. Mehr als eine Million Besucher wandern jedes Jahr durch die etwas verkommene, aber idyllische Anlage im Herzen der dänischen Hauptstadt.