28. September 2016
Auf frischem Müll den Skihang runter
Von Thomas Borchert

Die raffinierte Technik darunter soll ab 2017 nach dem Prinzip „Abfall zu Energie“ 160 000 Haushalte mit Fernwärme und 61 500 mit Strom versorgen und Kopenhagens guten Ruf als grünste aller Hauptstädte nach dem Start im kommenden Jahr neuen Glanz bringen. „Der Skihügel ist toll. Aber das darunter ist Geldverschwendung und großer Mist,“ sagt dazu Jens Peter Mortensen von Dänemarks Naturschutzverband und muss kichern. Wohl über die Verbindung von Mist und Müll bei diesem größtem Kopenhagener Bauprojekt neben der Metro. Nicht nur er hält es für einen teuren Schildbürgerstreich: Es gebe gar nicht genug Müll, und außerdem müssten die Dänen endlich lernen, ihren Abfall zu sortieren und zu recyceln, statt ihn bequem zu verbrennen: „Norweger, Schweden und Deutsche schütteln den Kopf über unsere Müllgewohnheiten. Meine schwedischen Nachbarn in Kopenhagen nehmen ihren Kompost mit auf Heimatbesuche.“
Der Vorfreude in der Hauptstadt auf neue Freizeitfreuden tut das keinen Abbruch. Auf der Facebookseite von „Amager Bakke“, für „Amager Hügel“, ist schon ein Behelmter mit untergeschnallten Skiern auf dem höchsten Punkt zu sehen, bereit zur Abfahrt. Wenn es soweit ist, liegen hier ganzjährig weiche Bürstenplatten aus, wie sie Ferienorte in den Bergen bei Schneemangel einsetzen. Was dort die Aussicht auf ein Tal wäre, ist hier die auf ein schon betagtes Kohlekraftwerk nebenan, vor dem spiegelblanken Øresund, und dahinter dann Schweden. Linkerhand und direkt am Wasser die auch noch ziemlich neue Kopenhagener Oper und auf der anderen Seite des Hafenbeckens die vier Barock-Palais‘ von Königin Margrethes II. 250 Jahre alter Residenz Amalienborg. Dahinter breitet sich die Stadtmitte aus, fast frei von Hochhäusern, dafür wunderbar erhalten und weiter lebendig in ihrer seit 150 Jahren unveränderten Struktur.
Und nun also von weither unübersehbar ein neues Wahrzeichen gegenüber. Das „Amager Ressource Center“ (ARC), von PR-Wortschöpfern noch liebevoller und genauso anglisiert „Copenhill“ oder „Copenslope“ genannt, sei die einzige europäische Müllverbrennungsanlage mitten in einer Stadt, abgesehen von Wien, erzählt ARC-Pressechef Morten Kramer Nielsen. Er schwärmt vom Wie: „Diese soll ein Kopenhagener Flaggschiff sein, technisch und ästhetisch das Beste vom Besten. Industrie wird neu geschaffen als Teil der Stadt.“
In Wien hatte jemand 1987 die schöne Idee, die Fassade der Anlage Spittelau durch den immer kunterbunten Friedensreich Hundertwasser neu gestalten zu lassen. In der dänischen Hauptstadt war von Beginn an klar, dass die Müllverbrennung irgendwie auch Teil der Freizeit- und Spaßgesellschaft sein sollte, die sich rund um den von Frachtern, Fähren und der Marine nicht mehr genutzten Hafen im Wahnsinnstempo ausbreitet. Überall wird gebadet, gepaddelt, vor dem Wasser und auf dem Wasser in Booten gefeiert, am Wasser gewandert, geradelt und bei einem Gläschen miteinander geredet. Immer neue Fahrrad- und Fußgängerbrücken quer über die alten Hafenbecken binden das Zentrum und den vorgelagerten Inselstadtteil Amager geradezu revolutionär neu zusammen. Es ist die reine Freude, vor allem im Sommer.
Das Restaurant „Noma“, viermal in den letzten fünf Jahren zum „besten der Welt“ gekürt, zieht gerade mit „fließenden Beeten“ auf dem Dach und gewaltigem eigenem Küchengarten an den Rand der romantisch verfallenden „Freistadt Christiania“. Der künstlich angelegte „Amager Strandpark“, fünf Kilometer lang, endlos breit und mit stillen Lagunen für die Kleinen, muss jeden Kurdirektor von der Nordsee vor Neid erblassen lassen. Fünf Metrostationen oder 15 Minuten auf dem Fahrrad ab Stadtmitte bis zum Badeparadies aus weißem Sand sind schwer zu schlagen. Die gigantische alte B&W-Werfthalle wird mal von Indoor-Golfern oder als Kletterparadies oder für Rockfestivals genutzt und war 2014 der ziemlich bizarre Austragungsort des Eurovision Song Contest. Und überall freie Fahrt sowie fast überall Vorfahrt für Radler.
Es vergeht kaum ein Monat ohne Planung, emsigen Bau oder feuchtfröhliche Einweihung neuer Freizeit-Attraktionen rund um den Stadthafen. Schon lange laufen ihn keine Frachter, Fähren oder Schiffe der königlich-dänischen Marine mehr an. Sieht man mal von den 400 Euro Mindestpreis für ein Drei-Gänge-Menü beim Noma-Chefkoch René Redzepi und astronomischen Immobilienpreisen in dieser attraktiven Lage ab: Ganz überwiegend haben es die Kopenhagener Stadtplaner geschafft, das neue Leben am Hafen für alle offen zu gestalten. All die schicken neuen Hafen-Badeanstalten sind natürlich gratis zu benutzen. Kein Wunder, dass Kopenhagens Oberbürgermeister Frank Jensen einen Preis nach dem anderen für seine „lebenswerteste Stadt der Welt“ einsacken kann.
Dazu schien perfekt zu passen, dass Bjarke Ingels 2011 mit der Idee kam, die neue Müllverbrennungsanlage als Skihügel in diese Hafenlandschaft, flach wie dänische Pfannkuchen, zu bauen. Der 41- jährige Stararchitekt hat zu deren Aufblühen wie kein anderer mit architektonische Perlen beigetragen. Für die Glaspaläste und einige seelenlose neue Wohnviertel, die leider auch am Kopenhagener Wasser aus dem Boden gestampft worden sind, konnte er nichts. Dass sein jüngstes Projekt für die eigene Geburtsstadt ein Publikumserfolg wird, bezweifelt niemand.
Skibegeisterte Flachland-Dänen ziehen im Winter zu Hunderttausenden nach Norwegen, Schweden und Richtung Alpen. In Amager dürfen sie ab Ende 2017 wetterunabhängig und ganzjährig zu moderaten Preisen (acht Euro die Stunde) auf Bürstenmatten „talwärts“ gleiten. Die Mutigen erst mit einer Neigung von 45 Grad, ehe es dann moderater wird: 180 Meter schwarze, 55 Meter blaue und unten 110 Meter grüne Piste für Anfänger. Oben auf das Dach kommt jeder eintrittsfrei, der nur mit einer kleinen Wanderung durch die künstliche Berglandschaft die Aussicht genießen oder ins Café will.“
Mit 82 Millionen Kronen (elf Millionen Euro), gestiftet von privaten Fonds, sind die Kosten für das Dachvergnügen Peanuts gegenüber vier Milliarden Kronen (500 Millionen Euro) für den Rest darunter. Das könnte für die Stadtkasse noch sehr viel teurer werden, weil die drastisch gefallenen Preise für Strom und Heizung als Einnahmequelle und fehlender Müll als Rohstoff dieses Monsterprojekt finanziell ins Wackeln gebracht haben. Schon in ein paar Jahren werden man „illiquide“ sein, wenn das alles so bleibe, mussten die Betreiber einräumen. ARC-Pressesprecher Nielsen ist Fußballfan und erklärt das Problem durch diese Brille: „Das ist wie bei der Planung eines Stadions. Wer kann denn schon wissen, wie viele Zuschauer in welcher Saison kommen?“
Als der Naturschützer Mortensen das hört, muss er wieder lachen: „Vor den enormen Überkapazitäten bei der Müllverbrennung haben wir schon 2009 gewarnt. Jetzt wird uns recht gegeben, und die Kur soll Import von Müll aus anderen Ländern sein.“ Aber die Negativ-Schlagzeilen über all die Fehlkalkulationen rund um den originellen Skihügel hätten auch ihr Gutes gehabt: „Die Probleme mit dem dänischen Müllkonzept sind viel mehr Leuten bewusst geworden.“ Tatsächlich ist Dänemark, das so gern mit seinen 40 Prozent Windenergie und den vielen Radwegen grüne Imagewerbung macht, beim Umgang mit dem Haushaltsmüll eher ein europäisches Entwicklungsland. Mit 758 Kilo Abfall pro Person und Jahr führen die Dänen die EU-Vergleichsstatistik weit vor Deutschland mit 618 Kilo (2014) und allen anderen an. Die schwedischen Nachbarn bringen es auf gerade mal 438 Kilo. Über die seit Jahrzehnten sorgsam Müll sortierenden Deutschen wird im Alltag gern süffisant gelächelt: Da herrsche halt das Prinzip „Ordnung muss sein.“ Ex-Umweltministerin Ida Auken hat als Studentin in Berlin fleißig und gerne „Flaschen, Pappe, Metall sowie Kompost sortiert“. Sie stellt dem eigenen Land ein schlechtes Zeugnis aus: „Wir sind die besten Pyromanen der Welt.“ In keinem anderen EU-Land wird prozentual mehr Müll verbrannt als in Dänemark. Kopenhagen hat gerade erst taufrisch einen Stadtrats-Beschluss zur getrennten Entsorgung von kompostierbaren Abfällen bekommen. Gut für das Umweltbewusstsein der Bürger und die Umwelt, aber auch wieder weniger Brennfutter für die neue Anlage in Amager.
Dass die trotz aller hypermoderner Umwelttechnik ja auch klimaschädliches CO2 in den Himmel über Kopenhagen entlässt, will BIG, die Firma von Stararchitekt Ingels, den Skiläufern auf dem Dach und allen in der Stadt mit einem optischem Gimmick permanent ins Gedächtnis rufen: Ein spezieller Generator auf dem 124 Meter hohen Schornstein soll aus dem Rauch Ringe formen und in den Himmel befördern. Je Viertel Tonne CO2 einen. Für die Deckung der Kosten von 1,2 Millionen Euro wird gerade Crowdfunding betrieben. Das auf jeden Fall passt sehr gut in die neue Kopenhagener Hafenlandschaft.