Month: September 2022
Eine Juristin über das total digitalisierte Dänemark

„Der digitale Expresszug wirft zu viele Menschen ab“
Erstellt: 29.09.2022, 16:32 Uhr
Von: Thomas Borchert

Expertin Eiriksson sieht Dänemarks Spitzenposition in der Digitalisierung kritisch
Frau Eirikssen, Dänemark gilt als Land der Hygge mit einer ausgeprägt zufriedenen Bevölkerung und steht bei der Digitalisierung international an der Spitze. Das passt doch gut zusammen, oder?

Natürlich macht die Digitalisierung vieles leichter und zugänglicher für die Bürger:innen. Sie können jederzeit Kontakt mit Behörden aufnehmen und Dokumente senden oder bekommen. Darin steckt ein Riesenpotenzial. Nur dass es in Dänemark damit gar nicht schnell genug gehen konnte. Wir nehmen uns nicht ordentlich der Menschen an, die der digitale Expresszug abgeworfen hat
Was sind die Gründe für das hohe Tempo?
Der wichtigste ist, dass wir so über unglaublich viele Daten der Bürger:‚innen verfügen. Der Türöffner dafür ist die schon 1968 eingeführte Personennummer. Sie verschafft uns einzigartige Möglichkeiten zur Digitalisierung der Behördenarbeit.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das Vertrauen seitens der Bevölkerung bei der Nutzung dieser Daten für die Digitalisierung?
Generell herrscht in Dänemark großes Vertrauen in die Anwendung von Daten durch die Behörden. Obwohl Medien dauernd berichten, wie es wieder schiefgegangen ist. Bei uns hat es seit langem äußerst großzügige Möglichkeiten für die Behörden zum Einsammeln und Austausch persönlicher Daten gegeben. Daran waren die Bürger:‚innen schon vor der Digitalisierung gewöhnt. Bei ihrer Durchführung ist jetzt das Vertrauen in den Staat von entscheidender Bedeutung.
Sie schätzen, dass in diesem Prozess 20 bis 25 Prozent der Menschen abgehängt werden. Woher kommt diese hohe Zahl?
Sie basierten auf offiziellen Schätzungen mit 17 bis 22 Prozent. Aber da haben sie die Dunkelziffer mit den am stärksten Betroffenen vergessen. Das sind diejenigen, die noch nicht mal wissen, dass der Staat sie zu einem elektronischen Briefkasten verpflichtet hat. Die Gruppe ist identisch mit den generell sozial Schwächsten in der Gesellschaft. Diese Menschen haben keinen Kontakt mit Behörden und ahnen nicht, dass ihnen zum Beispiel z.B. gerade ein Strafbescheid zugestellt worden ist.
Sie kritisieren das Fehlen von Rechtssicherheit. Was meinen Sie damit?
Ich bin bei den Dokumenten zur staatlichen Digitalisierung nicht ein einziges Mal auf den Begriff Rechtssicherheit gestoßen. Es geht immer nur um die Frage: Kannst du oder kannst du nicht? Das finde ich beunruhigend. Es gilt nach wie vor das Mantra, das die Digitalisierung so schnell wie möglich weitergehen muss. Man hält nicht inne, um die gemachten Erfahrungen auszuwerten. Dabei haben meine Untersuchungen und die vielen jüngsten Berichte Betroffener in der Zeitung „Politiken“ gezeigt, dass eigentlich viel mehr als die 25 Prozent digital Abgehängten mitunter enorme Probleme haben. Mich eingeschlossen. Die haben bisher nicht gewagt, dies zu äußern, sondern sich für ihr Problem geschämt und diskret Hilfe bei Angehörigen gesucht. Jetzt melden sie sich endlich zu Wort.
Wird der dänische Staat auch beim Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz digitaler Vorreiter?
Ich habe keinen Zweifel, dass Dänemark alles einführen wird, was technologisch machbar ist. Man ist ja schon fleißig dabei mit Pilotprojekten. Das finde ich okay, abgesehen davon, dass Bürger:‚innen zu Versuchskaninchen werden, die nicht darum gebeten haben. Etwa wenn Algorithmen Informationen über Probleme von Familien mit ihren Kindern bewerten und daraus Entscheidungen getroffen werden.
Welchen Vorschlag haben Sie für eine gerechte Digitalisierung mit Rechtssicherheit?
Meine wichtigste Empfehlung lautet: Digitale Selbstbedienung und der digitale Postverkehr mit Behörden müssen freiwillig sein. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich das, kombiniert mit mehr Hilfe bei Problemen. Ich hoffe sehr, dass das jetzt bei uns Wahlkampfthema wird.
Interview: Thomas Borchert
Über mein Leben im total digitalisierten Dänemark

Alles nur noch online in Dänemark
Erstellt: 30.09.2022
Von: Thomas Borchert

Die Digitalisierung ist in Dänemark längst selbstverständlich, ja sogar verpflichtend. Briefe auf Papier schreibt niemand mehr, und ohne persönliche Online-ID geht beim Kontakt zu Behörden gar nichts.
Die Dänin Ellen feuert gerne Spott ab, wenn sie mich, ihren zugewanderten Ehemann, wieder mal unseren Briefkasten aufschließen sieht. Ich gucke jeden Tag erwartungsvoll hinein, obwohl „PostNord“ Briefe aus Papier schon lange nur noch einmal pro Woche bringt. Richtig gelesen: einmal die Woche. Natürlich ist der Blechbehälter mit unseren Namen immer leer. Niemand im durchdigitalisierten Dänemark bedient sich noch der altmodischen Mitteilungsform. Der Freundeskreis oder die Verwandtschaft nicht, die Unternehmen mit offenen Rechnungen auch nicht und erst recht nicht die Behörden.
Diese verweigern auch die Entgegennahme von Papierpost. Seit 2014 schon sind alle Menschen ab ihrem 15. Lebensjahr beim Kontakt zum Staat zwangsdigitalisiert. Wir müssen einen elektronischen Briefkasten namens „Eboks“ unterhalten, sind gesetzlich verpflichtet, ihn in kurzen Abständen zu checken und unsere Anliegen stets digital in die andere Richtung zu schicken.
Online geht ja alles so viel schneller und effektiver. Sollten Ellen und ich von unserer Ehe die Nase voll, aber sonst keine handfesten Meinungsverschiedenheiten haben, setzen wir uns einfach vor den Rechner. Wir loggen uns mit dem für alle obligatorischen „MitID“ („MeineID“) ein auf „borger.dk“, haben Zugriff auf unsere Konten, füllen das passende Online-Formular aus und überweisen 650 Kronen (87,40 Euro) Gebühr. Wenn das System das Formular nach dem Klick auf „Senden“ annimmt, sind wir rechtskräftig geschieden und bekommen automatisch eine digitale Quittung. Das war’s. Also hypothetisch.

Schweden kurz nach der Wahl

Thomas Borchert
Hoher Preis für die Macht im Norden
Nach seinem Sieg bei der Parlamentswahl steht das Mitte-Rechts-Bündnis nun vor einer schwierigen Regierungsbildung
Zwei Wochen nach dem glänzenden Erfolg der Schwedendemokraten (SD) bei der Parlamentswahl ist weiter offen, wie die von Alt- und Neonazis gegründete Partei ihre 20,5 Prozent in handfeste Macht umsetzen kann. Natürlich wolle man jetzt als stärkste Kraft des Mitte-Rechts-Lagers in die Regierung und habe Anspruch auf Ministerposten, verkündet SD-Chef Jimmie Åkesson. Der Konservative Ulf Kristersson, inzwischen mit Sondierungen für die Regierungsbildung beauftragt, will die Rechtsaußen aber nur als Mehrheitsbeschaffer ins Boot nehmen.
Rechtsrutsch Dafür wird er einen hohen Preis mit politischen Zugeständnissen zahlen müssen. Die SD haben nach der fünften Reichstagswahl in Folge mit kräftigen Zugewinnen kaum zu schlagende Trümpfe in der Hand. Ausschließlich ihrem Erfolg ist zu verdanken, dass hinter Kristersson eine knappe Mehrheit von 176 Abgeordneten gegenüber 173 für den Mitte-Links-Block der bisherigen sozialdemokratischen Regierungschefin Magdalena Andersson steht.
Alle anderen bürgerlichen Parteien verloren Stimmen, einschließlich der Konservativen selbst, die sich überdies mit 19 Prozent von den Rechtsextremisten überholt sehen mussten. “Svenska Dagbladet” kommentierte: “Jetzt wird Ulf Kristersson Ministerpräsident in Jimmie Åkessons Regierung.” Noch kurz vor der Wahl 2018 hatte Kristersson der Auschwitz-Überlebenden Hédi Fried versprochen, “niemals, niemals irgendwie mit SD zusammenzuarbeiten”. Jetzt sind deren braune Wurzeln vergessen, stattdessen gibt es Lob vom Regierungschef in spe: “Sie haben bei starkem Gegenwind aufrecht gemahnt, dass wir die Zuwanderung begrenzen müssen, wenn wir die Integration schaffen wollen.”
Gang-Kriminalität Topthema im Wahlkampf war die außer Kontrolle geratene Gang-Kriminalität unter jungen Männern aus Migrantenfamilien. Schockierend hohe Opferzahlen bei immer mehr Bombenanschlägen und Schießereien auf offener Straße erschütterten das Grundvertrauen in den Staat. Es gilt als klar, dass sich Kristersson und SD auf massive Beschränkung der Zuwanderung und Strafverschärfungen speziell für Banden-Kriminalität einigen werden. “Dänemark ist unser Vorbild” lautet das gemeinsame Mantra mit Blick auf die dort seit zwei Jahrzehnten extrem harte Politik gegenüber Zugewanderten.
So gut wie einig ist sich Kristerssons Lager auch über den möglichst schnellen und massiven Ausbau der Atomkraft. Ein Wahlkampfversprechen, das angesichts astronomischer Strompreise verfing – und das ausgerechnet im ersten Land der Welt, das sich 1980 per Volksabstimmung von dieser Energiequelle verabschiedet hatte. Doch jetzt schlug die Angst vor explodierenden Strompreisen die Angst vor dem atomaren Supergau. Lang allerdings ist die Liste von Themen mit schwer überbrückbaren Differenzen im Mitte-Rechts-Lager vor allem bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Minderheitsregierung Zu erwarten ist deshalb eine Minderheitsregierung unter Kristersson, die mit umgekehrten Vorzeichen auf genauso wackligen Beinen stehen wird wie zuletzt die sozialdemokratische unter Magdalena Andersson. Außenpolitisch steckt Schweden mit dem noch nicht in Kraft getretenen Nato-Beitritt wegen des Widerstands aus der Türkei in einer schwierigen Lage. Kristersson will hier die Erdogan diskret entgegenkommende Linie seiner Vorgängerin Andersson fortsetzen.
Für die schwedische EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte darf er wohl auf Zurückhaltung der SD hoffen. Die allerdings rein taktisch sein würde, denn Åkesson hält wie die Rechtspopulisten überall in Europa nichts von Brüssel. Über Ungarns Regierungschef Viktor Orban hat er nur Gutes zu sagen und konnte sich bei einer Journalistenfrage “Biden oder Putin?” nicht entscheiden, wen er vorzieht.
Die Sozialdemokratin Andersson hatte im Wahlkampf massiv vor Einfluss für die SD gewarnt: “Ihre Hasskampagnen sind exakt wie die der Nazis in den 30er Jahren”. Nach der Niederlage des Mitte-Links-Lagers (bei 30,3 Prozent für die eigene Partei) bietet sie nun Kristersson eine Zusammenarbeit an. Ohne Echo. Schwedens Bürgerblock zeigt sich vorerst fest entschlossen, für die Regierungsmacht mit den Rechtsextremisten zu paktieren.
Der Autor ist Skandinavien-Korrespondent der Frankfurter Rundschau.
Schweden kurz vor der Wahl

Schweden-Wahl 2022: Programm der Intoleranz
10.09.2022
Von: Thomas Borchert
Schweden wählt am Sonntag (11. September) seinen nächsten Reichstag. Die Rechtsextremen werden schon als die großen Gewinner gehandelt.
Stockholm – Vor der Schweden-Wahl 2022 am Sonntag (11. September) stehen bei wackligen Mehrheitsverhältnissen ein paar Sieger wohl schon fest. Die aus Nazigruppen entstandenen Schwedendemokraten (SD) können sich laut Umfragen darauf einrichten, zur zweitstärksten Kraft mit vielleicht mehr als 20 Prozent aufzusteigen. Überparteilich auf der Siegesstraße unterwegs sind die Befürworter:innen von Atomkraft als Rettung vor Energieknappheit und alle, die drastisch höhere Strafen für ein Allheilmittel gegen Kriminalität halten.

Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist im Land von Greta Thunberg als Wahlkampfthema auf der Strecke geblieben. „Zusammen in der Finsternis“ hieß denn auch der Song, den die 19-jährige Erstwählerin mit Schwedens populärstem Rockmusiker Håkan Hellström vor 72 000 Menschen im Göteborger Ullevi-Stadion anstimmte.
Vor der Schweden-Wahl: Der Staat soll Härte zeigen
Draußen ist ihre Botschaft von der Mainstream-Politik diesmal nicht angekommen. Stattdessen kämpfen die Minderheitsregierung der Sozialdemokratin Magdalena Andersson und das Lager des konservativen Oppositionschefs Ulf Kristersson um Stimmen mit immer neuen Vorschlägen, wie maximale staatliche Härte die explosiv gestiegene Zahl immer brutalerer Gang-Rivalitäten eindämmen kann. So katastrophal sind die Zahlen und immer neuen Beispiele, dass sie neben der Klimapolitik auch den Ukraine-Krieg mit Schwedens bevorstehendem Nato-Beitritt und die explodierenden Energiepreise samt Inflation als Wahlkampfthema schlagen. In diesem Jahr sind bisher bei 249 Schießereien 47 Menschen gestorben, darunter Mütter mit Kleinkindern als Zufallsopfer. Schweden mit seinen gut zehn Millionen Menschen hält hier einen trostlosen Europarekord.

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Andersson eilte etwa mitten im Wahlkampf ins Malmöer Einkaufszentrum Emporia, nachdem dort ein 15-Jähriger ein konkurrierendes Gangmitglied erschossen und eine Frau schwer verletzt hatte. Klar, dass die seit acht Jahren regierenden Sozialdemokraten als Beweis ihrer gescheiterten Integrationspolitik verantwortlich gemacht werden. Anderssons Wahlslogan „Unser Schweden kann es besser“ darf auch als Eingeständnis verstanden werden. „Aber jetzt werden wir jeden Stein wenden“, verspricht die Regierungschefin.
Vor der Reichstagswahl in Schweden: Sozialdemokraten bei 28 Prozent
Ihre Partei steht in Umfragen ungefähr bei den 28 Prozent der vergangenen Wahl. Sie hat komplett umgeschwenkt auf den im Nachbarland Dänemark praktizierten Kurs maximaler Härte, etwa mit Verdoppelung von Strafmaßen für Vergehen in „Problem-Wohngebieten“ mit staatlich regulierter ethnischer Bewohnerzusammensetzung. „Wir wollen in Schweden keine Somalitowns“, verkündet die Wahlkämpferin Andersson.
Ihr konservativer Herausforderer Kristersson kann das meistens toppen, wird aber seinerseits von den SD-Rechtsaußen noch viel wirkungsvoller übertrumpft. Parteichef Jimmi Åkesson kommt auch persönlich mit seelenruhig vorgetragenen Forderungen nach „praktisch null Asyl“ und „Europas niedrigster Zuwanderung“ bestens an. Seine Partei hat in den Umfragen bei Zahlen um 20 Prozent die Konservativen überholt. Für Kristersson ein Riesenproblem, denn eigentlich will er Andersson als Regierungschef mit Åkesson als kleinerem Partner in der Rolle der Mehrheitsbeschafferin ablösen.