Month: June 2022

Erdogan verschärft Attacken gegen NATO-Kandidaten im Norden

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Nato-Beitrittsländer Schweden und Finnland: Katerstimmung im Norden

19.06.2022

Von: Thomas Borchert

Finnlands Militär ist vorbereitet für die Landesverteidigung, aber Helsinkis Politik noch nicht.
Finnlands Militär ist vorbereitet für die Landesverteidigung, aber Helsinkis Politik noch nicht. © ALESSANDRO RAMPAZZO/AFP

Erdogans Drohgebärden wirken bei den Nato-Bewerbern Schweden und Finnland und sorgen auch Abseits von Ja oder Nein der Nato für Probleme.

Brüssel – Nach den hastig beschlossenen Nato-Beitrittsanträgen breitet sich in Schweden und Finnland Katerstimmung aus. Dafür sorgt mit immer neuen Attacken der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seine Blockadepolitik gegen die Aufnahme der beiden angeblichen „Gasthäuser“ für kurdische Terroristen kurz vorm Madrider Nato-Gipfel sogar noch verschärft. Die sichere Erwartung eines schnellen Entscheids beim Gipfel als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine ist Ernüchterung, Verunsicherung und auch Reue gewichen.

Finnlands Präsident Sauli Niinistö, schon vor Amtsantritt vor zehn Jahren Befürworter eines Nato-Beitritts, sagte der Zeitung „Ilta-Sanomat“: Hätte Helsinki aus Brüssel Signale über mögliche Widerstände bekommen, wäre der Beitrittsantrag nicht an die Nato-Zentrale abgeschickt worden. Aber vom Generalsekretär Jens Stoltenberg über US-Präsident Joe Biden bis hin zu Erdogan selbst hätten ihm ja alle persönlich versichert, Finnland und Schweden seien hier und jetzt hochwillkommen.

Interview mit Sipri-Direktor Dan Smith: Risiko von Atomkrieg “auf neuem Niveau”

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Frankfurter Rundschau - 13.06.2022

"Der Einsatz wird erwogen"
Sipri-Direktor Dan Smith warnt vor neuen Strategien aller neun Atommächte und einem höheren Niveau von Gefahr und Risiko
Herr Smith, ein Einsatz von Atomwaffen erscheint seit den russischen Drohungen im Ukraine-Krieg als realistische Möglichkeit. Müssen sich die Menschen auch Sorgen über die anderen acht Atommächte auf der Welt machen?

Es geht im Kern um Szenarien als Folge des Ukraine-Krieges. Derzeit würde ich mir keine derartigen Sorgen über die Nuklearwaffen im Südpazifik oder Korea oder Israel machen. Aber sollte Russland tatsächlich Atomwaffen in der Ukraine einsetzen, würde das die Frage nach möglichen Antworten der USA, Großbritanniens und Frankreichs aufbringen. Würden die dann wiederum Atomwaffen einsetzen, hätte das die Frage einer Reaktion Chinas zur Folge.

Sie sagen, das Risiko der Anwendung von Atomwaffen sei so hoch wie nie zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Was sind die wichtigsten Gründe?

Im Zentrum steht Russlands ausdrückliche Warnung, man könne Kernwaffen anwenden. Dazu kommt, dass deren Entwicklung und vor allem die Doktrinen rund um Atomwaffen in den letzten Jahren augenscheinlich in die Richtung gehen, wie man durch ihre Anwendung militärische Vorteile erzielen kann. Anstatt sie nur als Mittel zur Abschreckung anzusehen. Die Erwägung von Atomwaffeneinsatz für militärische Vorteile bedeutet ein neues Niveau für Gefahren und Risiken.

Noch immer sind 90 Prozent aller Atomwaffen in russischem oder US-Besitz. Gibt es Anzeichen für geopolitische Machtverschiebungen?

Wir sehen Indizien, dass China sich anschickt, sein Arsenal auszubauen mit dem Ziel, zu einer weit gewichtigeren Atommacht aufzusteigen. Noch verfügt das Land nur über zehn Prozent des US-Arsenals. Ansonsten reflektieren unsere aktuellen Nuklear-Statistiken die Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen, aber keine Veränderung der Machtverhältnisse.

Gibt es einen Grund zur Hoffnung für die Menschen, die auf eine von Atomwaffen freie Welt hoffen?

Zum einen haben alle fünf permanenten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat am 3. Januar, bevor der Ukraine-Krieg begann, die Deklaration von Gorbatschow und Reagan aus dem Jahr 1985 bekräftigt, wonach ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und deshalb nie geführt werden darf. Das zweite Hoffnungszeichen bei all den wahrlich dunklen Wolken: Gerade wegen des Krieges in der Ukraine und der Äußerungen von Präsident Putin sowie maßgeblichen Repräsentanten Russlands über die mögliche Anwendung von Atomwaffen sprechen Menschen jetzt wieder über dieses Problem und denken darüber nach. Das Schlimmste während der letzten Jahre war dieses behäbige Schweigen zu Atomwaffen aus Desinteresse. Die derzeit 12 705 Atomwaffen sind viel weniger als die 70 000 Mitte der 80er Jahre. Aber die 12 705 können alles Leben auf unserem Planeten weiter komplett auslöschen. Das sollte schon ein Grund zur Sorge sein. Die einzige Möglichkeit, Politiker:innen zum Handeln zu bewegen besteht darin, dass die Menschen diese Sorge auf die Tagesordnung bringen. Die Tatsache, dass wir diese Thematik jetzt weit intensiver diskutieren, ist Anlass zu einem gewissen Grad an Optimismus.

Interview: Thomas Borchert

Sipri: Die Zahl der Atomsprengköpfe geht wieder nach oben

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Alle neun Atommächte stocken ihre Arsenale auf
Laut einem Bericht des Friedensforschungsinstituts Sipri wird die Anzahl der atomaren Sprengköpfe in den kommenden Jahren steigen
13.6.2022

VON THOMAS BORCHERT

Nach den russischen Drohungen mit einem Nuklearschlag im Ukraine-Krieg kommen kaum weniger beunruhigende Erhebungen zur weltweiten Ausbreitung von Atomwaffen von den USA bis Nordkorea. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri prognostiziert in dem an diesem Montag veröffentlichten Bericht, dass die Gesamtzahl von derzeit 12 705 atomaren Sprengköpfen, davon etwa 2000 jederzeit einsatzbereit in Raketensilos und an Flugzeugen, in den kommenden zehn Jahren steigen wird.

"Alle Atommächte sind dabei, ihre Arsenale zu erweitern und zu modernisieren. Die meisten von ihnen verschärfen ihre nukleare Rhetorik und betonen stärker die Rolle von Atomwaffen in den eigenen militärischen Strategien," sagt Wilfried Wan, Chef des Sipri-Programms zu Massenvernichtungswaffen. Das sei "ein sehr beunruhigender Trend". Die Stockholmer Friedensforscher:innen sehen eine Umkehrung der Entwicklung zu weniger Atomwaffen seit Ende des Kalten Krieges vor drei Jahrzehnten. Diese Wende verschärft den in den letzten Jahren schon konstatierten Prozess zur "Modernisierung" vor allem mittels neuer taktischer Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft und Reichweite sowie größerer Zielgenauigkeit. 

Im vergangenen Jahr ist die Gesamtzahl den Sipri-Daten zufolge noch leicht von 13 080 auf 12 705 zurückgegangen, aber nur, weil die USA und Russland veraltete und schon seit Jahren aus dem Verkehr gezogene Sprengköpfe vollständig verschrottet haben. Die einstigen Supermächte in der bipolaren Welt nach 1945 verfügen auch drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges über 90 Prozent aller Atomwaffen. Bei laut Sipri "relativ stabiler Zahl" von einsatzbereiten Nuklearwaffen ist ein Ausbau des Arsenals strategischer Kernwaffen (mit großer Reichweite) durch das russisch-amerikanische Start-Abkommen von 2010 begrenzt. Für taktische Kernwaffen gibt es dagegen keine Beschränkungen. Es war der Einsatz solcher Atombomben, mit denen Russlands Präsident Wladimir Putin dem Westen wegen Unterstützung für die Ukraine gedroht hat.

Sämtliche neun Atommächte (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea) stationieren oder entwickeln neue Waffensysteme oder haben die Absicht dazu verkündet. China sei "mitten im Prozess einer substanziellen Aufrüstung". 

Größte Gefahr seit Langem

Als Beispiel nennt Sipri den infolge von Satellitenfotos vermuteten Bau von 300 neuen Silos zum Abschuss nuklear bestückter Raketen. Auf 2021 neu gelieferten mobilen Abschussrampen und U-Booten seien vermutlich weitere zusätzliche Nuklear-Sprengköpfe zu finden. Großbritannien hat 2021 eine Anhebung der Obergrenzen für die Zahl eigener Sprengköpfe angekündigt. London kritisiert China wie Russland seit langem für fehlende Transparenz in Sachen Atombewaffnung, geht aber jetzt denselben Weg: Man werde keine Angaben zu einsatzbereiten Nuklearwaffen, Sprengköpfen oder stationierten Raketen mehr veröffentlichen. Frankreich hat die Entwicklung eines atomar betriebenen U-Bootes mit Nuklearbewaffnung (SSBN) angekündigt.

Auch Pakistan und Indien betreiben nach den Stockholmer Angaben den Ausbau ihres Atomwaffenarsenals. Dasselbe sei von Israel zu vermuten, das die Verfügung über Atomwaffen nie offiziell bestätigt hat. Sipri schätzt Nordkoreas Bestand an Atomwaffen auf 20 Sprengköpfe und genug spaltbares Material für weitere 45 bis 55.

Als "Meilenstein" bei den diplomatischen Bestrebungen zur Eindämmung der Menschheitsgefährdung durch Atomwaffen hebt Sipri das Inkrafttreten des Vertrags gegen deren Weiterverbreitung 2021 heraus, nachdem ihn im Januar die erforderliche Zahl von 50 Staaten ratifiziert hat. Im selben Monat einigten sich die fünf Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates, zugleich auch die führenden Atommächte der Welt, auf eine gemeinsame Erklärung mit der Aussage: "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf deshalb niemals stattfinden." Dazu heißt es im Stockholmer Bericht: "Trotzdem setzen die fünf Staaten ihre Ausweitung und Modernisierung ihrer nuklearen Arsenale fort und sind offenbar auch dabei, die Bedeutung von Atomwaffen für ihre jeweilige militärische Strategie stärker zu betonen." Sipri-Direktor Dan Smith kommentiert: "Es sind im letzten Jahr signifikante Fortschritte bei der Begrenzung der Verbreitung wie der Abrüstung erreicht worden. Aber das Risiko, das Atomwaffen zum Einsatz kommen, erscheint höher als jemals zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges."

Land Gesamt

USA 5 428

Russland 5 977

Großbritannien 225

Frankreich 290

China 350

Indien 160

Pakistan 165

Israel 90

Nordkorea 20

Zusammen 12 705

Stand: 2022 Quelle: Sipri

Schon wieder eine Parlamentsposse in Stockholm

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Misstrauensvotum in Schweden abgewendet – doch der Weg in die Nato wird komplizierter

Erstellt: 07.06.2022

Von: Thomas Borchert

Schwedens Premierministerin Magdalena Andersson besucht die internationale Militärübung „Cold Response 22“ in Norwegen.
Schwedens Premierministerin Magdalena Andersson besucht die internationale Militärübung „Cold Response 22“ in Norwegen. © IMAGO/Anders Wiklund/TT

Bis zum vorentscheidenden Nato-Gipfel in Madrid sind weniger als drei Wochen Zeit – Schweden legt sich unterdessen neue innenpolitische Stolpersteine auf dem Weg ins Militärbündnis.

Mitten im Beitrittsprozess zur Nato und kurz vor regulären Neuwahlen hat sich Schwedens Regierungschefin Magdalena Andersson mit Ach und Krach durch einen Misstrauensantrag vor dem parlamentarischen Aus gerettet. Die Aufnahme ihres Landes in die Militärallianz hat sie damit alles andere als leichter gemacht.

Das politische Überleben sicherte ihrer Minderheitsregierung ausgerechnet die Stimmenthaltung der fraktionslosen Abgeordneten Amineh Kakabaveh. Die früher zur Linkspartei gehörende Politikerin mit kurdischen Wurzeln hat als Zünglein an der Waage beim Amtsantritt Anderssons ihre Stimme von der Garantie abhängig gemacht, dass Schweden genau mit jenen kurdischen Organisationen zusammenarbeitet, derentwegen der türkische Staatschef Erdogan jetzt Schwedens Aufnahme in die Nato blockieren will. Ohne diese Garantie hätte Andersson im November nicht Regierungschefin werden können.