Month: March 2023
Wahlvorschau Finnland

Finnland wählt – und Sanna Marin muss bangen
Erstellt: 30.03.2023
Von: Thomas Borchert
Die 37-jährige Ministerpräsidentin von Finnland holt kurz vor der Wahl auf. Doch ihre Mitte-Links-Koalition steht am Sonntag vor einer Wahlschlappe. Konservative Kräfte sind auf dem Vormarsch.
Sanna Marin kann sich eigentlich nicht über mangelnde Hilfe für ihre Wiederwahl als Finnlands Regierungschefin beklagen. Eine Woche vor den Reichstagswahlen an diesem Sonntag hatte der „World Happiness Report“ den 5,5 Millionen Menschen hoch im Norden wieder attestiert, sie seien das „glücklichste Volk der Welt“. Und nach Ungarn war am Donnerstag auch die Zustimmung der Türkei als letztes der 30 Nato-Mitglieder zur Aufnahme Finnlands in die Militärallianz erwartet worden. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe lag noch kein Ergebnis vor. Nachbar Schweden muss derweil weiter warten. Anfang März hatte bereits der heimische Reichstag der 37 Jahre jungen Marin den von ihr betriebenen Nato-Beitritt mit dem Ergebnis 184 gegen sieben Stimmen abgesegnet – rechtzeitig zum Wahlkampfauftakt.
In der Bevölkerung ist dieser Schritt zudem als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine ebenfalls breit verankert. 1340 Kilometer eigene Landgrenze mit dem Aggressor Russland wiegen schwer.
Wahl in Finnland: Konservative Kräfte auf dem Vormarsch
Doch trotz auch persönlich hoher Zustimmungswerte muss Marin aber beim Wahlgang am Sonntag die Ablösung durch den konservativen Herausforderer Petteri Orpo (53) fürchten. Dessen Sammlungspartei liegt in den Umfragen konstant vorne, und auch die nationalistische Rechtsaußenpartei „Wahre Finnen“ (WF) mit der 45-jährigen Riikka Purra an der Spitze könnte sich noch vor Marins Sozialdemokraten schieben. Alle drei Parteien liegen mit je knapp 20 Prozent eng beieinander, wobei Marin im Endspurt zulegt.
Die TV-Debatten lassen beim besten Willen nicht den Eindruck aufkommen, dass die beiden Spitzenkandidatinnen und der Konservative sich an ein irgendwie überdurchschnittlich glückliches Wahlvolk wenden. Umgekehrt spielt der unmittelbar bevorstehende Beitritt zur Nato und die daraus folgende Konfrontation mit dem übermächtigen Nachbarn im Osten im Wahlkampf auch keine Rolle.
Finnland wählt: Der Konservative Orpo könnte mit den „Wahren Finnen“ koalieren
Stattdessen wird äußerst zivilisiert gestritten über Topthemen von doch weniger existenzieller Bedeutung: Sollen Klassenobergrenzen in Finnlands Grundschulen eingeführt werden? Wie kräftig und wo muss der Staat sparen, um das durch Corona und gestiegene Rüstungsausgaben vergrößerte Haushaltsdefizit einzudämmen? Wie ist dem drastisch steigenden Mangel an Arbeitskraft beizukommen?
Meinungsunterschiede sind im politischen Spektrum von den „Wahren Finnen“ ganz rechts bis zur derzeit mitregierenden Linkspartei oft nur schwer auszumachen. Dazu passt, dass praktisch alle Parteien traditionell zur Zusammenarbeit miteinander bereit sind. Entscheidend ist erst mal, wer bei der Stimmenauszählung die Nase vorn und damit Anspruch auf das Spitzenamt in der Regierung hat.
Der Konservative und glühende EU-Anhänger Orpo könnte mit den „Wahren Finnen“ koalieren. Mit kleineren Parteien im Bunde hätte dies eine Rechtsregierung zur Folge als Ablösung für Marins Mitte-Links-Koalition. Aber auch eine Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit Orpos Sammlungspartei gilt als nicht unwahrscheinlicher Wahlausgang.

Norwegen streitet über Windparks contra Rentierzucht

Greta Thunberg über Windpark in Norwegen: „Dies ist ein klarer Fall von grünem Kolonialismus“
Erstellt: 22.03.2023
Von: Thomas Borchert
Die Samen protestieren gegen einen norwegischen Windpark – mit prominenter Unterstützung.
Was kompromissloser Protest ausrichten kann: Junge Angehörige der samischen Urbevölkerung in Norwegen haben die Regierung mit Blockadeaktionen gegen Osloer Ministerien beim Streit um Windparks auf Weideflächen für die Rentiere der Samen in die Knie gezwungen. Jedenfalls, was Worte angeht. Dabei hatte die Staatsmacht erst Beteiligte an den Besetzungsaktionen einfach reihenweise festnehmen lassen. Zusammen mit den Samen und Aktiven des Jugend-Umweltverbands ließ sich auch die aus Stockholm gekommene Greta Thunberg Anfang des Monats von zwei Polizistinnen aus der Lobby des Öl- und Energieministeriums wegtragen.
Ihren Protest ausgerechnet gegen Windkraft erklärte sie so: „Dies ist ein klarer Fall von grünem Kolonialismus, indem man vorgibt, den Planeten zu retten, aber in Wirklichkeit die Menschenrechte indigener Völker von A bis Z verletzt.“ Das Echo auf die knallhart durchgezogene Blockadeaktion brachte Regierungschef Jonas Gahr Støre auf neue Gedanken. Er lud Sprecherinnen der Protestaktion zum Gespräch und beugte nicht nur beim Handschlag artig den Kopf. Norwegens Premier gab jetzt erstmals unumwunden zu, dass bei der Genehmigung für 151 Windräder der beiden Parks Storheia und Roan auf der Halbinsel Fosen an der Westküste die Rechte der Samen sträflich außer Acht gelassen worden seien. Kurz danach besuchte er auch noch ganz hoch im Norden in Karasjok eine Rentierzüchter-Familie und wiederholte vor dem „Samen-Parlament“ seine Entschuldigung: „Wir bedauern, dass hier Menschenrechte verletzt worden sind.“
Aktivist:innen der Samen: „Wir starten neue Aktionen“
So richtig neu ist diese Erkenntnis allerdings auch für den Sozialdemokraten nicht, denn schon 2021 hat Norwegens Oberster Gerichtshof den Bau der zwei Windparks für gesetzwidrig erklärt, weil sie einen großen Teil der Halbinsel unbrauchbar machen als Weideflächen für die Rentiere der Samen. Eine Verletzung des „UN-Zivilpaktes“ zum Schutz von Minderheiten sei das. Anderthalb Jahre vergingen ohne greifbare Reaktion des Staates. Die Turbinen des riesigen Windkraftparks drehten sich einfach munter weiter, und genau dieses kaltschnäuzige „Aussitzen“ hat die winterliche Blockadeaktion in Oslo rund um den 500. Tag nach dem Richterspruch ausgelöst.
„Land Back!“ lautete, auf Englisch, vielleicht als Kompromiss zwischen Samisch und Norwegisch, die Forderung der Protestierenden – einzulösen durch sofortige Abschaltung und dann den Abriss der 151 Windkrafträder. Genau diese Schritte aber will die Regierung auch nach ihrem Einlenken mit wohlklingenden Entschuldigungen nicht gehen. Zuletzt nahm Öl- und Energieminister Terje Aasland vor dem Parlament Stellung zu möglichen Szenarien „Wir haben keine rechtliche Grundlage für einen Rückbau der Anlagen in Fosen“, sagte er vor dem Parlament in Oslo. Und fügte an: „Aber ich schließe für die Zukunft keine Option aus,“ was auch einen Teilabriss bedeuten könne. Jetzt müsse man „neues Wissen sammeln“.
Das klang nach neuem Aussitzen und kam deshalb gar nicht gut bei den in Samen-Tracht zuhörenden Blockade-Sprecherinnen an. „Ganz klar, wir starten neue Aktionen, wenn jetzt einfach nur wieder viel Zeit vergehen soll“, sagte Ella Marie Hætta Isaksen.
Kritik der Samen: Norwegen akzeptiert uns nur, wenn es nichts kostet
Die norwegische Öffentlichkeit ist gespalten. Einerseits ist allseits klar, dass sich niemand unter denen mit Macht und Einfluss bei der Planung der Anlage um die Proteste der Betroffenen darum scherte, dass ihre Tiere schon durch die Bauphase Fosen meiden und folglich aus ihren Weideflächen verdrängt würden. Die Rentierzucht hat wirtschaftlich keine nennenswerte Bedeutung, ist aber Kern der samischen Kultur für derzeit gut 50 000 Menschen, ein Prozent der Gesamtbevölkerung Norwegens. Über Jahrhunderte hatte dieses traditionell als Nomaden lebende kleine Volk in Norwegen wie auch bei den Nachbarn in Finnland und Schweden sowie in Russland mit den Problemen des Kolonialismus zu kämpfen.
Das hat sich vor allem in Norwegen kräftig geändert, dessen Regierung als einzige in den vier Ländern mit Samen das ILO-Abkommen zum Schutz „indigener und in Stämmen lebender Völker in unabhängigen Ländern“ anerkennt. Aber nur an der Oberfläche, wenn es nichts kostet, sagen viele Samen.
Støre betonte auch bei seinem Büßer-Auftritt vor ihrem Parlament nicht nur einmal, worum es für ihn im Kern geht: „Norwegen braucht mehr Energie.“ Eine zentrale Ursache für die katastrophalen Umfragezahlen seiner Arbeiterpartei ist der zeitweise bedrohliche Strommangel des vergangenen Jahres mit astronomisch hohen Preisen als Folge. Bekommt Støre das nicht in den Griff, werden die Umfragezahlen mit Sicherheit noch tiefer rutschen als durch fehlenden Respekt vor den Rechten eines indigenen Volkes.
Erdogan segnet Finnlands Nato-Beitritt ab

Kniefall vor Erdogan
17.03.2023
Von: Thomas Borchert

Auf das Schweden-Bashing ohne Rücksicht auf Interessen der Nato will der türkische Präsident Erdogan im Wahlkampf nicht verzichten. Dass Finnland den Paarlauf mit seinem Nachbarn diskret aufgegeben hat, ist verständlich.
Recep Tayyip Erdogan hat Finnlands Präsident Sauli Niinistö nach fast einem Jahr Blockadepolitik den türkischen Segen für den Nato-Beitritt erteilt. Den schwedischen Premier Ulf Kristersson schickte der Autokrat vor ein paar Monaten in derselben Causa aus Ankara wie einen dummen Schuljungen mit leeren Händen heim: Stockholm müsse erst all die kurdischen Terroristen ausliefern, die sich angeblich so ungehemmt in Kristerssons Land austoben könnten.
Obwohl Schweden längst all seine Bedingungen erfüllt hat, genau wie Finnland. Auf das Schweden-Bashing ohne Rücksicht auf die Interessen der Nato will Erdogan im Präsidentschaftswahlkampf nicht verzichten.
Dass Finnland mit 1340 Kilometern Landgrenze zu Russland den lange als vollkommen unverzichtbar gepriesenen Paarlauf mit seinem Nachbarn diskret aufgegeben hat, ist verständlich. Wie Washington, Brüssel und auch Stockholm vor den immer neuen Forderungen und Tricksereien Erdogans weiter in die Knie gehen, ist ein Armutszeugnis für die Nato.
JP-klumme: justitsmord og klassejustits i Danmark?

Der er forskel på folk – og på justitsmord
Ahmed Samsam, Lars Findsen, Claus Hjort Frederiksen – og den knap så heldige Lucky Francis – er alle prominente navne i abekastning i det danske retsvæsen. Men ikke alle har lige meget rygstød.
Thomas Borchert tysk korrespondent
Da der for nylig skulle udvælges en relevant og helst også spændende historie fra Danmark til læserne af Frankfurter Rundschau, viste sig et forbløffende problem. Jeg kunne vælge mellem fire aktuelle historier – stikord: justitsmord. Pokkers også, tænkte jeg, det er vel alt for meget i en retsstat. Det blev til en artikel om danske Ahmed Samsam, der i Spanien fik en dom på otte års fængsel som IS-terrorist, alt imens de hjemlige efterretningstjenester PET og FE hemmeligholdt, at han som deres agent havde været aktiv i Syrien.
Mindst lige så spektakulær er den igen og igen stadfæstede dom, i byret, landsret og højesteret, over et somalisk forældrepar, der skal have ladet deres to døtre omskære. De har fået hver halvandet års fængsel, selvom de og døtrene nægter, og fire ud af fem ekspertundersøgelser påviser, at pigerne ”uden tvivl“ ikke er blevet omskåret. At Den Særlige Klageret nu for anden gang afviste at genoptage sagen, gjorde mig lige så målløs som formentlig enhver, der har lyttet til DR’s podcast ”Det levende bevis“ om sagen.
Det fortjener respekt, at netop Venstre-manden Hjort har nægtet at være med til alle mulige tys-tys-manøvrer, hvorved hans egen sag kunne have fået en blød landing.
Nigerianeren Lucky Francis, benamputeret efter en skudveksling med danske soldater fra Søværnet på jagt efter pirater ved Vestafrikas kyst, har fået en dom i Københavns byret for ”fareforvoldelse“. Dog uden straf, da det stod dommerne klart, at Francis var havnet på anklagebænken i Danmark ene og alene pga. af sin alvorlige skade. Efter ugers grublerier på regeringskontorerne i København havde Søværnet endda foræret de af hans kammerater, der ikke var druknet eller skudt, en båd hjem til Nigeria og friheden.En mere åbenlyst ulige behandling fra statslige instanser kan man vanskeligt forestille sig.
Redaktionen i Frankfurt rettede i artiklen om Samsam mit ord ”Justizmord“ til ”Justizirrtum“ (justitsfejltagelse). Ordnung muss sein, tænkte jeg surmulende, men den redigerende kollega havde på sin vis ret. For på tysk kan der kun være tale om justitsmord, når den anklagede efter en uretmæssig dom henrettes, mens man i Danmark omgås begrebet lidt friere: Det er justitsmord, når en uskyldig er dømt.
Ordet justitsmord svirrer muntert i luften, både på Christiansborg og i medierne, i dagligdags politiske kampråb. Barbara Bertelsen beskyldes af nogle for som departementschef i Statsministeriet at have sat gang i et justitsmord i en personlig vendetta mod Lars Findsen. Hvilket, efter manges mening, kan føre til endnu et justitsmord – med Claus Hjort Frederiksen som offer.
I hans tilfælde har både diverse partier og justitsministeren – som øverste anklager i kongeriget – vredet sig som ål i en ruse: Kunne der mon findes en blød landing for den 75-årige eksminister, uden at man samtidig gjorde sig selv til grin ved at have bragt bombastiske anklager mod Findsen? Vinden for eller imod en anklage vendte lystigt, alt efter hvem der regerede sammen med eller imod hvem. »Det er en hysterisk overreaktion at retsforfølge ham« og »en skandaløs politisk beslutning«, ifølge Alex Vanopslagh (LA). Hvilken sælsom sammenblanding af politik og jura.
Et tilsvarende sammenrod prægerdommene mod Ahmed Samsam (søn af syriske flygtninge), det somaliske forældrepar og nigerianeren Lucky Francis. Alle kommer de fra den modsatte ende af samfundet i forhold til Hjort og Findsen & co., og de har ikke en Christiansborg-lobby til bløde landinger.
Ingen ville have løftet så meget som et øjenbryn efter den formentligt forkerte dom over somalierne, hvis ikke deres egen datter Amira havde kæmpet så standhaftigt og til alt held var stødt på en så intelligent og vedholdende journalist som DR’s Frederik Hugo Ledegaard.
Det fortjener respekt, at netop Venstre-manden Hjort har nægtet at være med til alle mulige tys-tys-manøvrer, hvorved hans egen sag kunne have fået en blød landing. Samtidig afkræver han PET og FE forklaringer og afklaring frem for tjenesternes »abekastningsspil« på bekostning af Samsam. Af Folketinget kræver han desuden en kommissionsundersøgelse: »Vi kan ikke have mistanke om justitsmord hængende i luften. Vi er trods alt en retsstat.«
Uheldigt for Lucky Francis, at han indtil nu ikke har fået en prominent talsmand og en retfærdig behandling.
Mens jeg skrev klummen, tænkte jeg på publicisten Kurt Tucholsky, for 100 år siden en nådesløs kritiker af tysk justits i Weimarrepublikken og en mester udi ætsende sarkasme rettet mod magthaverne: »Jeg har intet imod klassejustits; jeg kan bare ikke lide den klasse, der laver den. Og som ovenikøbet lader som om, det skulle være retfærdighed.«
Thomas Borchert, (f. 1952) tysk-dansk korrespondent, bosat i København og Berlin, er en del af Jyllands-Postens weekendpanel, hvor syv personer hver uge på skift skriver en kronik. Han skriver for Frankfurter Rundschau og har skrevet en bog med titlen ”Gebrauchsanweisung für Dänemark”. Som udenrigskorrespondent skriver han om Danmark og de andre nordiske lande.
Kopenhagener “Klimaschutz-Insel”: Monumentales Greenwashing?

Geoengineering im Öresun03.03.2023
Von: Thomas Borchert
Ein Mammutprojekt zum Schutz Kopenhagens vor der Klimakrise gerät unter heftige Kritik.
Eine künstliche Insel nordöstlich der dänischen Hauptstadt, die fast so groß ist wie Helgoland: Es ist ein fantastisch anmutendes Megaprojekt, das Kopenhagen vor dem Meeresspiegel schützen soll, der bis 2100 den aktuellen Prognosen nach einen Meter höher sein könnte als jetzt. Seit ein paar Wochen ist der erste Steindamm fertig, schon bald soll das Innere der Eindämmung im Norden von Dänemarks Hauptstadt trockengelegt und mit Erdreich aufgefüllt werden, und so die Insel Lynetteholm entstehen.
Oberbürgermeisterin Sophie Hæstrup Andersen, die seit 2020 im Amt ist, preist sie als „zukunftssichere“ Barriere auch gegen häufigere Sturmfluten: Ohne das Projekt wären „unsere Metro, die Eisenbahn, Straßen und Zehntausende Wohnungen von Zerstörung bedroht“, sagt sie.
Deshalb sei Eile geboten, begründete sie die kurze Zeit zwischen der ersten Vorstellung des Plans 2018 und dem Baubeginn 2022. Atemberaubend schnell ist das für das größte Bauprojekt der dänischen Geschichte und damit einhergehend höchst komplexen Folgen für die Umwelt.
Am Ende soll Lynetteholm als Heimstatt für 35 000 Menschen gegen die Wohnungsnot helfen und noch mal so viele Arbeitsplätze schaffen. Aber erst muss die schwer vorstellbare Menge von 80 Millionen Tonnen Erdreich aus Lkws herbeigeschafft und in den Öresund gekippt werden. „Win-win“, heißt es, denn so könne Kopenhagen von all dem überschüssigen Boden aus der emsigen Bautätigkeit für Häuser, Straßen und die U-Bahn befreit werden.
Bei der Präsentation der Idee variierte der damalige Premier Lars Løkke Rasmussen begeistert das Bild vom „Ei des Kolumbus“. Lynetteholm sei wie ein„Überraschungsei“ für Kinder: Der Klimaschutz als Schokolade drumherum und drinnen als doppelte Überraschung die Lösung von Wohnungs- und Verkehrsproblemen auf einen Schlag. Denn mit Metro und großzügigem Tunnelbau soll Lynetteholm tatsächlich eine Halbinsel werden.
Wie kleine Kinder für dumm verkauft fühlen sich von derlei Lobpreisungen inzwischen aber so viele, dass das ganze Projekt ins Wanken geraten ist. Der Hauptstadt-Bevölkerung ging auf, dass für das Wachstum der neuen Insel die kommenden 30 Jahre jeden Tag 700 Lkw-Fuhren mitten durch Kopenhagen gekarrt werden müssen. So hat es ihnen „Stop Lynetteholm“ vorgerechnet, und das hatte Folgen. Bei der Kommunalwahl vor anderthalb Jahren verlor Andersens Sozialdemokratie klar, während die frontal gegen Lynetteholm opponierende Einheitsliste stärkste Kraft wurde.
In der Vorort-Kommune Køge ärgerte man sich darüber, dass gigantische Mengen Schlamm vom Bauplatz in der Køge-Bucht verklappt werden sollen. Die Regierung des Öresund-Nachbarn Schweden protestierte wegen der ökologischen Folgen für das sensible Gewässer. Der Öresund hat enorme Bedeutung für die Zufuhr von frischem Salzwasser in die Ostsee. Viele Expert:innen sind überzeugt, dass Lynetteholm diese gefährlich einschränken würde.
Ihre Forderung nach einem Baustopp bis zur Gerichtsentscheidung hat die Klimabevægelsen zwar aus Angst vor gigantischem Schadensersatz für den Fall einer Niederlage aufgegeben. Politisch aber stehen die Betreibergesellschaft By&Havn und Andersen politisch aber so massiv unter Druck, dass sie einen taktischen Rückzug nach dem anderen hinlegen müssen.
Die Verklappung in der Køge-Bucht ist abgesagt, nun soll es plötzlich möglich sein, den Schlamm beim Aufschütten der Insel vor Ort wiederzuverwenden. Andersen gestand ein, man habe die Bevölkerung „mangelhaft einbezogen“ und berief – nachträglich – eine repräsentativ ausgewählte Bürgerversammlung ein. Die attestierte ihr prompt, die Beteiligung komme „zu spät“. Sie verlangt in elf Empfehlungen radikale Änderungen bei den grundlegenden Planungsprinzipien, ohne aber für eine Absage einzutreten.
„Lynetteholm ist ein politisches Waisenkind geworden, das niemals Adoptiveltern finden wird“, kommentiert die Zeitung „Politiken“. Aber es wächst vorerst weiter. Gebaggert und gebaut wird trotz der extrem miesen Stimmung um das Projekt. Bis zum Ziel ist als Kontrast zum eiligen Start noch ein weiter Weg: Das Auffüllen mit Erdreich soll 2050 und der Wohnungsbau für 35 000 Menschen nicht eher als 2070 abgeschlossen sein.
Dänemark verpasst seine Klimaziele
Der Klimarat des skandinavischen Landes konstatiert, dass es sich immer weiter von den selbst gesteckten Klimazielen entfernt . Das gelte auf kurze wie auf lange Sicht für so gut wie alle klimapolitischen Teilbereiche.
Reduziert werden sollen die CO2-Emissionen des Landes demnachbis 2025 um 50-54 Prozent (gegenüber 1990) und um 70 Prozent bis 2030. Beides sei nicht zu erreichen, wenn nicht schleunigst eine CO2-Abgabe für die Landwirtschaft eingeführt werde, so das Gutachten.
Die Agrarindustrie steht für ein Viertel der CO2-Emissionen Dänemarks. Die neue Große Koalition schiebt die Abgabe für die Landwirtschaft vor sich her: Diese dürfe „die Konkurrenzkraft nicht schwächen und keine Arbeitsplätze kosten“. Dänemark gilt auch wegen des starken Anteils von Windkraft an der Stromerzeugung international als Vorreiter beim Klimaschutz, doch der von der Regierung als Wachhund eingesetzte Klimarat meint, selbst die Erreichung der eigenen Klimaziele reiche nicht, um die EU-Verpflichtungen zu erfüllen. tob
Und auch juristische Einschätzungen geben der „Klimabevægelsen“, einem Zusammenschluss dänischer Umweltorganisationen, gute Chancen mit ihrer Klage gegen das Projekt. Um für den Bau in Windeseile die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, habe man das Projekt per Salamitaktik in angeblich unabhängige Teilprojekte aufgesplittet und so EU-Regeln verletzt. Für Kritiker:innen ist Lynetteholm Greenwashing eines Geschäftsmodells zur Schaffung profitträchtigen Baulands.