Month: December 2022

Schwedens EU-Ratspräsidentschaft dürfte Orbán gefallen

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Der Einfluss der Orbán-Freunde

Erstellt: 27.12.2022, 16:38 Uhr

Von: Thomas Borchert

Wie unbeschwert kann Schwedens Premierminister Ulf Kristersson gen Brüssel ziehen?
Wie unbeschwert kann Schwedens Premierminister Ulf Kristersson gen Brüssel ziehen? © dpa

Stockholm tritt die EU-Ratspräsidentschaft an – die rechtsextremen „Schwedendemokraten“ reden entscheidend mit

Schwedens bevorstehende EU-Ratspräsidentschaft sollte bei Viktor Orbán zumindest diskrete Freude auslösen. Wenn die Skandinavier:innen zum Jahreswechsel von Tschechien übernehmen, werden bekennende Freunde des ungarischen Regierungschefs und seiner autokratischen Politik mit die Fäden ziehen. Die aus Nazi-Gruppen entstandenen „Schwedendemokraten“ (SD) sind bei den Wahlen im September mit 20,5 Prozent zur stärksten Kraft im neuen Regierungslager aufgestiegen. Sie bestimmen als Mehrheitsbeschafferin für die Minderheitsregierung des konservativen Premier Ulf Kristersson souverän über deren Schicksal.

SD-Chef Jimmie Åkesson sagte in einem Interview, bei einer Entscheidung zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán ziehe er den Ungarn vor. Parteikollege Richard Jomshof, gerade zum Vorsitzenden im Justizausschuss des Reichstags aufgestiegen, beklagte sich öffentlich darüber, dass die heimischen Medien „noch nicht“ so funktionierten wie die ungarischen. Und zwei in Stockholmer Skandale verwickelte SD-Spitzenfunktionäre flüchteten wohl nicht nur der schönen Donau wegen nach Budapest als Dauerwohnsitz.

Das ist alles schon ein paar Jahre her. In der Zwischenzeit haben die SD die Forderung nach Austritt aus der EU aus dem Parteiprogramm gestrichen und treten generell zahmer auf. Unmittelbar vor Beginn der Ratspräsidentschaft blickt der zuständige Parteisprecher Martin Kinnunen höchst kooperationsbereit nach vorn: „Wir sehen gute Möglichkeiten für eine Einigung auf fast alles im EU-Ausschuss des Reichstages.“ Wichtig sei es im Schatten des Ukraine-Krieges vor allem, „Europa zusammenzuhalten“.

Die weichgespülte Rhetorik passt nicht so recht zum nach wie vor stolzen Bekenntnis zu „Nationalismus“ als SD-Fundament. Aber sie ist die gewünschte Begleitmusik für Kristerssons Präsidentschafts-Agenda. Auch der setzt den Erhalt der EU-Einigkeit zum Krieg in der Ukraine ganz oben auf seine To-do-Liste für die kommenden sechs Monate. An zweiter Stelle stehen „Klima und grüne Transformation“, gefolgt von „Stärkung der europäischen Konkurrenzkraft“. Am Ende wird die „Bewahrung der grundlegenden Prinzipien liberaler Demokratien“ als eine Kernaufgabe für die EU-Präsidentschaft genannt. Das unterscheidet sich wenig von dem, was auch die Regierung der Sozialdemokratin Magdalena Andersson im Fall eines eigenen Wahlsieges vorgelegt hätte.

Nur wäre die eben nicht von einer rechtsextremen Partei abhängig gewesen. Im detaillierten Regierungsvertrag zwischen den EU-freundlichen Konservativen, Christdemokraten und Liberalen als Koalitionsparteien und den EU-feindlichen SD als Mehrheitsbeschafferin ist auffällig selten von Europa die Rede. Das sei pfiffig, heißt es aus Koalitionskreisen: Auf diese Weise habe die Regierung bei diesem Thema freie Hand, Mehrheiten etwa bei den in Sachen EU kooperationswilligen Sozialdemokraten zu suchen.

Der Politologe Andreas Johansson Heinö vom Timbro-Institut fügt an: „Die SD ducken sich in Sachen EU immer weg. Sie wollen zum Thema Ungarn auch nicht als zu soft dastehen.“

Umso mehr ließ ein Bericht der Zeitung „Expressen“ aufhorchen, wonach in geheimen Zusatzprotokollen zum Regierungsvertrag genau aufgelistet ist, bei welchen Fragen während der EU-Präsidentschaft sich die Regierung mit SD ins Benehmen setzen muss. Darunter fällt thematisch alles, was innenpolitisch als bindend vereinbart worden ist, vor allem auch die Klima- und die Migrationspolitik. Das „Expressen“-Fazit zu den geheimen Zusatzvereinbarungen: „SD hat sich erheblichen Einfluss auf die EU-Politik der Regierung und die bevorstehende schwedische Ratspräsidentschaft verschafft.“

Auf welcher Grundlage die Partei Kristerssons Regierung dabei vor sich hertreiben will, hat Parteichef Åkesson auch nach dem Start der Regierung wieder unmissverständlich klargemacht: Er sehe keine wissenschaftlichen Beweise für eine echte Klimakrise. Die Asylzuwanderung nach Schweden müsse „auf Null“ heruntergezwungen werden.

Wie die Rechtsaußen zur „Bewahrung der liberalen Demokratie“ als europäischer Kernaufgabe stehen, haben sie gerade erst wieder im eigenen Land vorgeführt: In Bollnäs sorgte sie für das Verbot eines vorweihnachtlichen Lucia-Kerzenumzugs, weil daran eine Person mitwirken sollte, die sich selbst als geschlechtsneutral definiert. „Mit schwedischen Werten nicht vereinbar“, lautete die Begründung des von den Rechten dominierten Stadtrates. Auch das müsste dem SD-Vorbild Orbán wohl gefallen.

Junge Leute in Schweden ziehen gegen lahme Klimapolitik vor Gericht

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Demonstrieren und verklagen: „Fridays for Future“ zieht vor Gericht

27.12.2022

Von: Thomas Borchert

Kommentare

Stockholm – Auch im Dezember, wenn es in Stockholm eiskalt werden kann und das Tageslicht schrecklich früh verschwindet, mahnen die jungen Leute von „Fridays for Future“ vor dem Reichstag zum Handeln gegen die Klimakatastrophe. Am letzten November-Freitag schloss sich von hier aus auch Greta Thunberg der Demo zum Amtsgericht der schwedischen Hauptstadt an: 636 Bürger:innen im Alter bis zu 26 Jahren haben Klage gegen die Regierung wegen Verletzung der Menschenrechte durch ihre Klimapolitik eingereicht.

Zwei Wochen später ist ein Appell mit 1620 Unterschriften aus Wissenschaft und Forschung dazugekommen: „Die Jungen haben vollkommen recht, wenn sie den Staat verklagen. Sie werden ihr ganzes Leben unter den Folgen der Klimakrise zu leiden haben.“

Ida Edling, Co-Sprecherin der Klägergruppe und Jurastudentin, findet die massive akademische Unterstützung „sehr cool, aber nicht überraschend“: „Sämtliche Forschungsergebnisse global sagen übereinstimmend, dass wir uns in einer Klimakrise befinden und eine Klimakatastrophe nur durch weitreichende Umstellungen unserer ökonomischen Systeme verhindert werden kann.“ Da Schwedens Regierung aber noch hinter den Pariser Abmachungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad zurückfalle, verletze sie die Menschenrechte vor allem junger Menschen.

Klimaaktivistin Greta Thunberg begleitete die Aktiven zum Stockholmer Amtsgericht.
Klimaaktivistin Greta Thunberg begleitete die Aktiven zum Stockholmer Amtsgericht. © Imago/Christine Olsson/TT

„Fridays for Future“ zieht vor Gericht: Fehlender oder unzureichender Klimaschutz

In der Klageschrift wird mit der Verletzung von bindenden Menschenrechtskonventionen durch fehlenden oder unzureichenden Klimaschutz argumentiert. „Der Staat schuldet uns juristisch Schutz des Lebens, der Gesundheit, des Eigentums, der Wohlfahrt und der menschlichen Würde“, erklärt Edling und verweist auf das Diskriminierungsverbot in Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Unsere Altersgruppe bis 26 Jahre ist den Auswirkungen der Klimakrise besonders stark ausgesetzt. Das bedeutet Diskriminierung.“

Als die Klage eingereicht wurde, hatte Schwedens neue Klima- und Umweltministerin Romina Pourmokhtari von den Liberalen ihren 27. Geburtstag gerade mal zwei Wochen hinter sich. Bis zu den Reichstagswahlen im September hätte man sie auch ohne Zögern auf der Klägerseite vermutet. Nie im Leben, war auf Twitter zu lesen, würde sie gemeinsame Sache mit den Rechtsaußen von den Schwedendemokraten (SD) machen.

Diese Partei mit Nazi-Wurzeln profiliert sich neben islamophobischer „Zuwanderungskritik“ vor allem als Klimaskeptikerin und machte erfolgreich Wahlkampf mit der Forderung nach „billigem Benzin und Diesel“. Dem schloss sich das traditionelle bürgerliche Lager einschließlich Pourmokhtaris kleiner wirtschaftsliberaler Partei an und hat eine komplett von der SD abhängige Minderheitsregierung gebildet.

Die vollkommen überraschende Ernennung zur Klima- und Umweltministerin ließ die junge Politikerin all die forschen Tweets von vor der Wahl vergessen. Nun verteidigt sie, dass die neue Regierung Benzin und Diesel, wie im Wahlkampf versprochen, so subventioniert, dass damit das Erreichen der schwedischen Klimaziele in weitere Ferne rückt. „Wenn wir sie nicht erreichen, erreichen wir sie eben nicht“, zuckt die konservative Finanzministerin Elisabeth Svantesson verbal mit den Achseln.

„Fridays for Future“ zieht vor Gericht: „Keine wissenschaftlichen Beweise für Klimakrise“

Die SD-Spitzenleute setzen auch als stärkste Kraft im Regierungslager ihren Feldzug gegen Klimapolitik schlechthin unvermindert fort. Parteichef Jimmie Åkesson äußert, er habe noch „keine wissenschaftlichen Beweise für eine Klimakrise“ gesehen. Seine Klimasprecherin Elsa Widding tut im Reichstag die schwedischen Klimaziele als „religiösen Unsinn“ ab. Beide haben laut schriftlicher Regierungsvereinbarung Anspruch auf „würdige und respektvolle“ Reaktionen der auf sie angewiesenen Regierungsparteien. Die junge Klimaministerin liefert sie auch mit handfesten Taten, etwa durch die von der Regierung angekündigten Subventionsstreichungen für den Ausbau der Windkraft.

„Windkraft ist einfach ein totales Hassobjekt für die politische Rechte“, erklärt der Politologe Andreas Johansson Heinö diesen irrational wirkenden Schritt. Er ist Verlagschef beim arbeitgebernahen Timbro-Institut, das niemand idealistischer Klima-„Spinnereien“ verdächtigen kann. Auch auf die Frage, warum die Klimapolitik im schwedischen Wahlkampf überhaupt keine Rolle gespielt habe, kommt Johansson Heinö mit einer nüchtern klaren Antwort: „Weil die großen Parteien glaubten, dass damit keine Stimmen zu holen waren.“

Eine klarere Begründung für die Klage hätte Ida Edling, Sprecherin der Initiative, kaum selbst liefern können. Die neue Regierung sei „noch nonchalanter“ als die vorherige sozialdemokratische, seufzt sie und meint zum jungen Alter der Klimaministerin, es „spiele keine Rolle“. Als Vorbild für den Klageweg verweist sie auf positive Erfahrungen in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich, ist sich aber auch der Risiken bewusst. Bis zu einer endgültigen Entscheidung können fünf Jahre vergehen. Anfang des Jahres sei zunächst mit der Entscheidung des Amtsgerichts zu rechnen, ob die Klage überhaupt angenommen werde.

Ob der juristische Erfolg oder die Mobilisierung von Menschen für den Klimakampf am wichtigsten seien? „Beides! Wir wollen schon klargestellt haben, wie weit die juristischen Pflichten des Staates gehen. Aber das zweite Ziel ist immer gewesen, die Aufmerksamkeit und die Kriseneinsicht zu stärken.“ (Thomas Borchert)

Dänemark legt sich Große Koalition zu

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Dänemark legt sich Große Koalition zu

Von: Thomas Borchert 15.12.22

Die neue dänische Koalition von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen entfernt sich von linker Wirtschaftspolitik.

Kopenhagen – Stolze sechs Wochen hat Dänemarks sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen zum Umsatteln gebraucht. Die 45-Jährige konnte am Mittwoch eine neue Mitte-Rechts-Koalition präsentieren, nachdem sie seit ihrem Antritt vor dreieinhalb Jahren mit Unterstützung des Mitte-Links-Lagers regiert hatte. Damit haben die Herbst-Wahlen in Dänemark und kurz vorher in Schweden den Norden kräftig nach rechts gerückt.

Die Verschiebung in Kopenhagen fällt weniger dramatisch aus als in Stockholm. Dort hat sich die neue Minderheitsregierung unter dem Konservativen Ulf Kristersson von den „Schwedendemokraten“ als Mehrheitsbeschaffer abhängig gemacht: rechtsaußen mit braunen Wurzeln und Vorliebe für Viktor Orbán.

Mette Frederiksen (Mitte) zusammen mit Venstre Jakob Ellemann-Jensen (links) und Loke Rasmussen (rechts).
Mette Frederiksen (Mitte) zusammen mit Venstre Jakob Ellemann-Jensen (links) und Loke Rasmussen (rechts). © afp

Dänemark plant zusätzliche Ausgaben für Militär

Frederiksens künftige Regierung zusammen mit der rechtsliberalen „Venstre“ und den „Moderaten“ präsentiert sich als Projekt „beiderseits der Mitte“. Dafür haben die Sozialdemokratin wie auch Venstre-Chef Jakob Ellemann-Jensen ihre bisherigen politischen Flügelpartner verlassen. Die Regierung verfügt mit 90 Mandaten über eine knappe Mehrheit von nur einer Stimme. Der Normalfall in Dänemark sind Minderheitsregierungen mit wechselnden Mehrheiten.

Das Regierungsprogramm verspricht zusätzliche Anstrengungen für das Militär, um das Ziel von zwei Prozent des BNP bis 2030, eher als geplant, zu erreichen. Neben einer Senkung des Spitzensteuersatzes will die Regierung einen Feiertag abschaffen. Auch, damit mehr Geld für die Verteidigung in die Staatskasse fließt. In der Klimapolitik soll für die Agrarindustrie eine CO2-Abgabe so eingeführt werden, „dass keine Arbeitsplätze verloren gehen“.

Migrationspolitik in Dänemark: Abschiebung Aslysuchender

In der Substanz nichts ändern soll sich an der extrem harten dänischen Migrationspolitik, die von der Dänischen Volkspartei durchgesetzt wurde. Sie ist bei den Wahlen mit 2,6 Prozent total abgestürzt. Das hat nicht zuletzt die komplette Übernahme ihrer islamophoben, auf maximale Abschottung zielenden „Ausländerpolitik“ auch durch Venstre und die Sozialdemokraten bewirkt. Frederiksens Partei propagiert seit Jahren die postwendende Abschiebung aller Asylsuchenden aus Dänemark nach Ruanda, wo dann ihre Anträge bearbeitet werden sollen.

Durchschlagenden Erfolg als Königsmacher kann Lars Løkke Rasmussen von den erst vor den Wahlen von ihm gegründeten Moderaten verbuchen: Der 58- Jährige war bis 2019 Vorgänger Ellemanns-Jensens an der Venstre-Spitze sowie Vorgänger Frederiksens an der Regierungsspitze und galt nach immer neuen persönlichen Skandalen als „erledigt“, zumal von der eigenen Partei in die Wüste geschickt.

Liberale in Dänermark verbuchen Einbußen, um fast die Hälfte der Stimmen

Mit den von ihm als Solo-Projekt gestarteten Moderaten und dem Werben für eine große Koalition quer über die alten Blöcke schaffte Rasmussen nun aber 9,3 Prozent bei den Wahlen. Bei der Präsentation des Regierungsprogramms stand er als Strahlemann vor der Medien-Meute, er kann bei der Vorstellung des Kabinetts am Donnerstag mit einem Superministerium rechnen.

Darauf kann auch Ellemann-Jensen hoffen, der aber sonst wenig Grund zum Strahlen hat. Mit 13,3 Prozent ist seine Partei um fast die Hälfte geschrumpft. Nun führt er die Liberalen in eine Koalition mit dem intern ziemlich verhassten Ex-Parteichef Rasmussen, dessen Konkurrenz-Initiative als Hauptgrund für die eigene Niederlage gilt.

Nach Dänemark-Wahl Kritik an Wahlsiegerin Frederiksen

Noch krasser fällt Ellemann-Jensens Kehrtwende gegenüber Frederiksen aus, deren angebliche „Machtbesessenheit“ als Top-Thema seines Wahlkampf gedient hatte. Wegen der von ihr in der Corona-Pandemie angeordneten Tötung sämtlicher fast 20 Millionen Zuchtnerze im Land ohne gesetzliche Grundlage wollte der Oppositionschef die Sozialdemokratin auch juristisch belangen lassen: „Davon lasse ich mich auch mit einem Minister-Dienstwagen nicht wegkaufen.“

Den bekommt er nun, lobt Frederiksen als begeisternd kooperationswillig und braucht keine juristischen Spürhunde mehr. Mit den von der Regierungschefin noch im Wahlkampf strikt abgelehnten Spitzensteuersenkungen hat sich der neue rechte Partner gut für das bezahlen lassen, was er selbst offen als „Wortbruch“ einstufen musste.

Auch Frederiksen, mit 27,5 Prozent überraschend klare Wahlsiegerin am 1. November, muss sich auf unangenehme Kritik wegen eben dieses Deals einstellen. Das Erfolgsrezept seit dem Antritt als Regierungschefin 2019 war die Verbindung einer scharf „rechten“ Migrationspolitik mit einer eher traditionell „linken“ Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jetzt stellt sie ihre Regierungsmacht auf zwei rechte Beine. (Thomas Borchert)

Rechtsaußen beim Nobelfest unerwünscht

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Zwietracht am Nobelpreis-Bankett

09.12.2022

Von: Thomas Borchert

Der Russe Jan Ratschinskij (vorne) von Memorial und Oleksandra Matwijtschuk (Mitte) vom Institute for Civil Rights in Oslo.
Der Russe Jan Ratschinskij (vorne) von Memorial und Oleksandra Matwijtschuk (Mitte) vom Institute for Civil Rights in Oslo. © afp

Politische Streitfragen in Stockholm und Oslo: In Schweden erklärt die Nobel-Stiftung einen Nationalisten zur Persona non grata, in Norwegen verweigert die Ukrainerin Matwijtschuk ein Interview.

Der Nobelpreis basiert auf Respekt vor Wissenschaft, Kultur, Humanismus und Internationalismus.“ Mit diesem kristallklaren Satz einschließlich des ziemlich aus der Mode gekommenen Begriffs „Internationalismus“ hat die Nobelstiftung einen bekennenden Nationalisten zur persona non grata erklärt. Jimmie Åkesson von den rechtsextremen Schwedendemokraten (SD) darf als einziger Parteichef seines Landes am Stockholmer Festbankett nach der Preisverleihung an diesem Samstag nicht teilnehmen.

Das war auch in den vergangenen Jahren immer so, als die SD vor allem wegen ihrer braunen Wurzeln allseits wie unberührbare Parias ins Abseits gestellt wurden. Der Ausschluss vom Nobel-Bankett wurde hierfür ein stark beachtetes Symbol, denn die pompöse Veranstaltung ist ganz einfach das gesellschaftliche Top-Ereignis in Schweden: Mit Frackzwang und Abendkleidern so extrem angesagt, dass das Fernsehen bei hohen Einschaltquoten vier Stunden live überträgt. Wer in Schweden „Rang und Namen“ hat, muss hier einfach dabei sein.

Nobelpreis: Ausgeladener bekennt sich zum Nationalismus

Die Wahlen im September haben die SD mit 20,5 Prozent zur zweitstärksten Kraft im Reichstag gemacht und vor allem das traditionelle bürgerliche Lager auf andere Gedanken gebracht. Åkesson ist jetzt für den neuen konservativen Premier Ulf Kristersson der unverzichtbare und hochrespektable Mehrheitsbeschaffer, dem er im Regierungsprogramm auch so gut wie alle Wünsche erfüllt hat – vor allem beim radikalen „Paradigmenwechsel“ in der Zuwanderungspolitik.

Åkesson und seine Parteifreunde bekennen sich stolz zum Nationalismus als Fundament ihrer Politik und donnern unentwegt gegen „den Islam“. Sie mahnen hin und wieder auch schon mal diskret zur Vorsicht gegenüber dem jüdischen Einfluss in Schweden. Eigentlich seien Juden wohl genauso wenig „richtige Schweden“ wie die samische Urbevölkerung, war etwa zu hören. Wonach dann jeweils eine „Richtigstellung“ kommt, dass die Medien wieder alles missverstanden hätten.

Nobelpreis: Bankett künftig nicht mehr im Rathaus?

Überraschend massiv hat sich die Partei auch nach ihrem Wechsel ins Regierungslager als klimaskeptisch oder auch -leugnend aus dem Fenster gehängt. „Ich hab noch keine wissenschaftlichen Beweise dafür gesehen, dass wir in einer akuten Klimakrise stecken,“ verkündet Åkesson und verlangt weniger ehrgeizige Klimaziele, damit etwa das Autofahren in Schweden endlich wieder billiger werden kann.

All dies hat offenbar die Nobelstiftung im Hinterkopf gehabt, als sie nun befand: „Unser Beirat sieht keinen Anlass, den früheren Beschluss zu ändern, wonach der SD-Vorsitzende nicht eingeladen wird.“ Kaum überraschend kam als Reaktion aus Åkessons Stockholmer SD-Gruppe die Ankündigung, man werde dafür sorgen, dass das Bankett künftig nicht mehr im Rathaus stattfinden darf.

Nobelpreis: Ukrainerin Oleksandra Matwijtschuk sagt Interview ab

Hohn schütteten die Rechten über die Stiftung aus, weil die den iranischen Botschafter im Gegensatz zu denen aus Russland und Belarus für Samstag nicht ausgeladen hatte. Was die Nobelstiftung nachholte. Auch sonst fiel die Verteidigungsstrategie von Stiftungschef Vikar Helgesen schon bemerkenswert defensiv aus: Wenn Åkesson irgendwann selbst Regierungschef werde, sei er natürlich willkommen beim Nobelbankett: „Parteichefs sind Chefs freiwilliger Zusammenschlüsse mit politischen Ansichten. Ein Regierungschef kommt in Staatsfunktion.“

Politischen Streit rund um die diesjährigen Verleihungen gibt es auch beim Friedensnobelpreis in Oslo. Hier hat die Ukrainerin Oleksandra Matwijtschuk vom Institute for Civil Rights das traditionell gemeinsame Preisträger-Interview mit dem russischen Vetreter der ebenfalls ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation Memorial, Jan Ratschinskij, abgesagt. „Unser Land ist im Krieg mit Russland,“ sagte sie im norwegischen TV-Sender NRK, äußerte sich aber auch ausdrücklich positiv über die Arbeit vom Memorial. Als dritter Preisträger wird der in seiner Heimat inhaftierte Menschenrechtsanwalt Ales Blaljazki aus Belarus von seiner Ehefrau Natallia Pintsjuk in Oslo vertreten.

Kurzkommentar zu Åkessons Ausschluss vom Nobelfest

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Aufstieg der Rechten in Schweden: Schriller Alarmruf

09.12.2022

Von: Thomas Borchert

Jimmie Åkesson hat mit den Schwedendemokraten – einer rechtsextremen Partei mit Wurzeln im Neonazismus – ein altes Rezept befolgt.
Jimmie Åkesson hat mit den Schwedendemokraten – einer rechtsextremen Partei mit Wurzeln im Neonazismus – ein altes Rezept befolgt. © dpa/(Archivbild)

In Schweden regieren jetzt Rechtsextreme mit. Die Entscheidung, die „Schwedendemokraten“ vom Nobelfest in Stockholm auszuschließen ist mutig – aber auch eine Warnung. Der Kommentar.

Nach dem alarmierenden Aufstieg der Schwedendemokraten ins Regierungslager gehört Mut dazu, den Chef der Rechtsextremen mit braunen Wurzeln weiter vom prestigeträchtigen Nobelfest in Stockholm auszuschließen. Immerhin haben 20 Prozent der Wählerschaft eines bisher stabilen demokratischen Landes der Partei ihre Stimme gegeben.

Die Nobelstiftung begründet die Ausladung mit den Fundamenten des Preises aller Preise: „Respekt für Wissenschaft, Kultur, Humanismus und Internationalismus“. Sie kann für jeden Punkt kiloweise Belege dafür vorweisen, dass die Schwedendemokraten mit dem Gegenteil Macht anstreben. Ihr Chef Jimmie Åkesson sieht keine wissenschaftlichen Beweise für eine akute Klimaproblematik, andere Spitzenleute sind bekennende Orbán-Fans und teilen dessen extrem unappetitliche „Skepsis“ gegenüber George Soros.

Am alarmierendsten an dem dann doch nur begrenzt mutigen Auftreten der Nobelstiftung ist die Ankündigung, den SD-Chef demnächst vielleicht doch einzuladen. Wenn er es auf den Posten des Regierungschefs geschafft haben sollte. Schriller kann der

Sipri: Chinas Rüstungskonzerne wachsen und wachsen

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Konjunktur der Konflikte

Erstellt: 05.12.2022

Von: Thomas Borchert

Demonstrationsflug eines Kampfjets in Kanada: Für die Waffenindustrie geht es steil nach oben. Imago Images
Demonstrationsflug eines Kampfjets in Kanada: Für die Waffenindustrie geht es steil nach oben. Imago Images © Imago

Der Ukraine-Krieg verstärkt den Rüstungsboom, bremst zugleich aber die Produktion – vor allem China drängt im Sipri-Bericht nach vorne.

Der Krieg in der Ukraine sorgt für gewaltige zusätzliche Nachfrage nach Kriegsgerät, hat aber zugleich den Rüstungsboom durch Versorgungsengpässe gebremst. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri erklärt das Paradox im an diesem Montag veröffentlichten Jahresbericht neben den Folgen der Corona-Pandemie auch damit, dass „Russland ein Hauptlieferant von Rohstoffen für die Rüstungsproduktion ist“. Das Versiegen dieser Quelle habe Lieferprobleme durch die Corona-Pandemie verstärkt. Zum Wachstum von 1,9 Prozent für die globalen 100 Branchenführer im letzten Jahr sagte die Sipri-Forschungschefin Lucie Béraud-Sudreau: „Ohne die permanenten Lücken in den Lieferketten hätten wir für letztes Jahr ein noch größeres Wachstum erwarten können.“

Grund zur Klage gibt es für die Waffenschmieden trotzdem nicht. Sie blicken auf sieben Jahre mit ununterbrochenem Wachstum zurück. Schon vor dem Ukraine-Krieg haben sich deshalb den Stockholmer Angaben zufolge immer mehr Private-Equity-Unternehmen, also private Kapitalgeber, in immer größere Rüstungsunternehmen eingekauft. Sipri nennt Beispiele aus den USA und blickt nach vorn: „Der zunehmende Trend zu Private-Equity-Aquisitionen wird wahrscheinlich wegen der historischen starken finanziellen Performance des Rüstungssektors andauern. Hinzu kommt die zu erwartende Nachfragesteigerung als Folge zunehmender geopolitischer Spannungen.“

Im vergangenen Jahr haben die 100 größten Rüstungskonzerne Waffen und militärische Dienstleistungen für die Rekordsumme von 592 Milliarden Dollar (562 Mrd. Euro) verkauft. Das gedämpfte Wachstum kann nach Meinung des Stockholmer Instituts auch noch eine Weile so bleiben, obwohl die Unterstützer-Staaten hinter der Ukraine genau wie die russische Seite alles daransetzen, ihre Bestände an in diesem Krieg eingesetzter Rüstung schnellstens aufzufüllen und auszubauen. In Russland wirkt als Bremsklotz vor allem das Ausbleiben von bisher importierten Halbleiter-Komponenten, die unter das Sanktionsregime wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine fallen.

Nach wie vor beherrschen die USA klar die Rüstungsbranche mit der Hälfte der globalen Waffenverkäufe. Die fünf Branchenführer, allen voran der Flugzeughersteller Lockheed, sind ausnahmslos in den Vereinigten Staaten angesiedelt. In der Rangliste der Top 100 macht sich aber auch Chinas Weltmachtstreben deutlich bemerkbar: Auf den britischen BAE-Konzern auf Platz 6 folgen fünf chinesische Rüstungshersteller. Sie haben zusammen mit drei weiteren heimischen Unternehmen im vergangenen Jahr um 6,3 Prozent zugelegt, während die US-Konkurrenz um 0,8 Prozent schrumpfte. „Chinesische Unternehmen haben für eine rapide Zunahme der Waffenverkäufe in Asien gesorgt“, heißt es im Bericht, Beim Bau von Kriegsschiffen hat der CSSC-Konzern weltweit den ersten Platz mit einem Umsatz von 11.2 Milliarden Dollar erobert.

Das ist mehr als doppelt so viel wie beim größten deutschen Rüstungshersteller Rheinmetall (laut Sipri 4,5 Mrd. Dollar), der den 31. Platz hält. Zum Rückgang um 1,7 Prozent im vergangenen Jahr heißt es, er sei durch Pandemie- und Lieferketten-Probleme bedingt. Was aber die Erwartungen für die Zukunft als Folge des Krieges in der Ukraine nicht trübt: Rheinmetall erwartet für 2021/22 einen Sprung von 100 bis 150 Prozent beim militärischen Auftragseingang und für 2023 immer noch 30 bis 40 Prozent. Hintergrund sind laut Sipri der „Bedarf zum Ersatz von an die Ukraine gelieferten gepanzerten Fahrzeugen und die deutschen Pläne für verstärkte Militärausgaben“.

Massives Wachstum mit plus 11 Prozent für 2021 kann ThyssenKrupp als zweites deutsches Rüstungsunternehmen (Platz 55) verbuchen. Beigetragen haben vor allem der Verkauf einer Fregatte an die Bundesmarine und von vier Korvetten nach Israel.

Dänemark streitet über (fehlende!) Flugscham von Politikerin

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Von wegen Flugscham

Erstellt: 05.12.2022

Von: Thomas Borchert

Theresa Scavenius (auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 2020 in der Mitte) gilt als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing. IMAGO IMAGES
Theresa Scavenius (auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 2020 in der Mitte) gilt als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing. © Imago

Dänemarks größte Zeitung attackiert in einem Leitartikel eine Politikerin wegen ihrer Flüge – und löst damit eine Debatte über die individuelle Verantwortung beim Klimaschutz aus

Zeigt das Fernsehen die Zigtausenden Delegierten und noch mal so viele Medienleute bei den UN-Klimakonferenzen in Scharm el-Scheich, Glasgow oder auch Lima, grübelt man schon zwischendurch über all die CO2-Emissionen durch Flugreisen zu und von diesem wichtigen Wanderzirkus. In Kopenhagen, Austragungsort der 2009 legendär gescheiterten COP15, ist zusätzlich zu diesem Grübeln jetzt ein knallharter Streit über die ganz persönliche Verantwortung von Klima-Vorkämpfer:innen ausgebrochen.

„Schäm dich, Theresa Scavenius“, überschrieb Dänemarks größte Zeitung „Politiken“ ihren bitterbösen Leitartikel über die gerade ins Parlament gewählte Klimasprecherin der Partei Alternativet. Der Vorwurf: Als Klimaforscherin hat Scavenius seit 2017 dienstlich 24 Flugtickets gebucht, die meisten zwischen Kopenhagen und ihrem knapp 250 Kilometer entfernten Arbeitsplatz an der Universität Aalborg. Und das, während ihre Partei Alternativet, die den Sprung ins Parlament geschafft hat, im Wahlkampf zum Folketing die lauteste Stimme für Klimaschutz war – und die 38- Jährige schon länger einen Namen als kompromisslose Kritikerin von Greenwashing und immer höheren Klimazielen ohne ernsthaftes Handeln hat.

„Politiken“ stuft sich seit einigen Jahren selbst als „wichtigste klimakritische Stimme“ im eigenen Land ein. Ungewöhnlich auch, dass die Zeitung schon unter eigenem Namen eine Kundgebung mit der per Bahn aus Stockholm angereisten Greta Thunberg organisiert hat. Der Schritt von Berichterstattung und Kommentar zum Klima-Aktivismus lässt die Anklage gegen Scavenius noch gewichtiger ausfallen.

Genau wie die zufällig in derselben Woche veröffentlichte Klimabilanz von „Politiken“ für dieses Jahr. Hier war zu lesen: „Insgesamt sind wir deutlich mehr geflogen, vor allem in Europa und Skandinavien.“ Chefredakteur Christian Jensen, ein leidenschaftlicher Thunberg-Fan, bedauerte das und verwies auf die Gesamtlage: „Die Welt ist aus den Fugen, deshalb fliegen wir mehr.“ Der Krieg in der Ukraine, die „schändliche Behandlung“ der migrantischen Arbeiter vor der WM in Katar sowie sicherheitspolitische Probleme gleich vor der Haustür in Schweden, Finnland und Polen seien für die vielen Flüge zwecks Reportage verantwortlich: „Hätten wir das nicht gemacht, hätten wir unseren Auftrag als Zeitung verraten.“ Positiv in der Klimabilanz hob Jensen heraus, dass in der „Politiken“-Kantine 2022 weder Plastiktassen noch -löffel ausgegeben wurden.

Interessanter als diese bizarre Doppelmoral fiel die offensive Reaktion der attackierten Klimapolitikerin aus. Scavenius entschuldigte sich nicht für die Flugreisen, auch nicht mit dem üblichen „Leider, leider für die Arbeit unausweichlich“. „Mein Ausgangspunkt ist nie die individuelle Verantwortung gewesen,“ schrieb sie stattdessen auf Facebook und begründete ihre „rabiate Klimapolitik“ ganz anders: „Vor 20 bis 30 Jahren haben wir global bindende Abmachungen zum Auslaufen, zur Reduktion und zu Verboten diskutiert. Jetzt wird fast nur noch über Selbstregulierung und individuelle Verantwortung gesprochen.“

Das ist wohl eine etwas zu kühne Behauptung, wenngleich die verschwindende Rolle der Klimapolitik vor und nach den dänischen Wahlen vor ein paar Wochen Scavenius recht zu geben scheint. Hier ging der kümmerliche Rückgang der dänischen CO2-Emissionen mit nach wie vor großzügigen Klimaregeln für die Agrarindustrie und dubiosen Ausnahmeregeln etwa für das Portland-Zementwerk in Aalborg, Dänemarks größtem einzelnen Treibhausgasproduzenten, so gut wie komplett unter.

Statt „mea culpa“ mit Flugscham kündigte Scavenius an, die kommenden vier Jahre für die Rückbesinnung auf „traditionelle Klimapolitik“ statt „Pseudo- und Symbolpolitik“ zu nutzen: „Ich will auch die repräsentieren, die eine andere Gesellschaft wollen, aber als normale Bürger die Nahrungsmittel kaufen, die es in den Supermärkten gibt, und die Transportmittel nutzen, die zugänglich sind.“ Vorher muss sie aber doch erst den gewaltigen Shitstorm überstehen, den die Enthüllung ihrer 24 Flugreisen und „Politikens“ Schlagzeile ausgelöst hat.