Month: September 2020

Über Klan-Kriminalität in Schweden

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Im August starb eine Zwölfjährige in Botkyrka südlich von Stockholm, die zufällig vorbeiging, als sich rivalisierende Banden an einer Tankstelle beschossen.
Im August starb eine Zwölfjährige in Botkyrka südlich von Stockholm, die zufällig vorbeiging, als sich Banden an einer Tankstelle beschossen.© ALI LORESTANI

23.09.2020

Clan-Kriminalität

Herrscher über das Verbrechen

  • von Thomas Borchert

In Schweden nimmt die Bandengewalt drastisch zu. Die Polizei spricht von einer „Systembedrohung“. Das verschiebt auch den Diskurs im Land.

Hat sich Schweden, das für viele im 20. Jahrhundert als das sozialdemokratische Musterland schlechthin galt, im 21. Jahrhundert naiv der Mafia ausgeliefert? Und steht es nun kurz vor dem Zusammenbruch als „failed state“, als gescheiterter Staat? Für die zehn Millionen Menschen im Land muss die bizarre Frage ein Stück realistischer klingen, seit ihr Vize-Polizeichef Mats Löfving jetzt ein tiefschwarzes Bild von der Kriminalität in Schweden gezeichnet hat.

Einfluss im Reichstag?

Es schlug wie eine Bombe ein, als Löfving in zwei Interviews von einer zunehmenden Herrschaft zugewanderter Clans über das organisierte Verbrechen gegenüber einer oft ohnmächtigen Polizei sprach: „Derzeit haben wir mindestens 40 auf Familienstrukturen basierende kriminelle Netzwerke in Schweden, sogenannte Clans. Ich behaupte, dass sie eindeutig mit dem Ziel nach Schweden gekommen sind, organisiert und systematisch Kriminalität zu betreiben.“

Klar, dass der Polizeichef nach viel mehr Kompetenzen für die Verbrechensbekämpfung rief. Schockierender war seine Einordnung der Clan-Kriminalität als „systembedrohend“ für Schweden, weil es ihr auch um politische Macht gehe. Die Clans hätten Einfluss auf kommunalem „und noch höherem Niveau“ gewonnen. Als Löfving im TV-Studio gefragt wurde, ob denn auch Clan-Angehörige im Stockholmer Reichstag Sitz und Stimme hätten, lautete seine Antwort: „Wir verfolgen das geheimdienstlich. Mehr kann ich nicht sagen.“

Die Polizeioffensive kommt infolge neuer Nachrichten über unschuldige Opfer der seit einigen Jahren in Schweden ausgefochtenen „Kriege“ zwischen kriminellen Banden. Im August starb eine zufällig vorbeigehende Zwölfjährige in Botkyrka südlich von Stockholm, als sich rivalisierende Bandenmitglieder an einer Tankstelle gegenseitig beschossen. Bisher sind in diesem Jahr bei solchen Schießereien 27 Menschen ums Leben gekommen, fast alle waren junge männliche Bandenmitglieder. 2018 ermittelte eine europäische Vergleichsstudie, dass das Todesrisiko durch eine Schusswaffe für 15- bis 29-jährige Männer in Schweden zehnmal höher ist als in Deutschland.

Die Anstrengungen der Polizei zur Eindämmung sind seit knapp einem Jahrzehnt nahezu alle fehlgeschlagen. Die Aufklärungsquote ist extrem niedrig – der Polizei zufolge vor allem, weil die Clan-Zwänge alle Beteiligten, auch auf der jeweiligen Opferseite, eisern schweigen lassen.

Kurz vor den Interviews mit Löfving kam aus Schwedens zweitgrößter Stadt Göteborg die Nachricht, dass zwei einander bekriegende Banden regelrechte Straßensperren mit eigenen Kontrolleuren errichtet und in von ihnen „dominierten“ Stadtteilen mit hohem Zuwandereranteil „Ausgangssperren“ verhängt hätten. Der TV-Sender „SVT“ berichtete in einer Dokumentarserie von Mafiafilz und Korruption in Sigtuna. Beteiligte: die sozialdemokratische Spitze im Rathaus, der Baukonzern Peab und der Spitzenmann der in der Stadt stark vertretenen syrisch-orthodoxen Zuwanderer-Community. Es klang wie eine Mafiageschichte, einschließlich der „Beschaffung“ von Wählerstimmen unter Zuwanderern für die Sozialdemokraten.

Populisten im Aufwind

Das ist zwar schon zehn Jahre her, passt aber als Enthüllung aktuell perfekt zu dem sich gerade dramatisch verschiebenden Zuwanderungsdiskurs im Land. Schweden hatte 2015 gut 160 000 Geflüchtete und damit relativ zur Bevölkerungsgröße mehr Menschen als Deutschland aufgenommen. „Mein Europa errichtet keine Mauern“, sagte der sozialdemokratische Premier Stefan Löfven damals. Heute, nach seiner längst vollendeten Wende hin zu einer recht konsequenten Politik gegen unerwünschte Zuwanderer, hat Löfven auch verbal eine Wandlung vollzogen und erklärt zum Kriminalitätsproblem: „Eine starke Zuwanderung, bei der wir die Integration nicht schaffen, bringt auch ein höheres Risiko für die Probleme, die wir jetzt sehen. Das ist glasklar.“ Bisher hatte der Ex-Gewerkschaftschef stets soziale Ursachen hervorgehoben.

Seine Partei wird durch die Schreckensnachrichten von den Bandenkriegen in die Defensive gedrängt. Auf der Rechten haben Konservative und Christdemokraten alle Bedenken gegen eine Zusammenarbeit mit den aus Nazi-Gruppen entstandenen Populisten der Schwedendemokraten aufgegeben. Sie propagieren eine Übernahme der extrem harten dänischen Ausländerpolitik, die seit 20 Jahren die Handschrift der dortigen Rechtspopulisten trägt. Bei den Nachbarn heißen Problemstadtteile mit hohem Zuwandereranteil offiziell „Ghettos“, wo bei Bandenkriminalität doppelt so hohe Strafmaße gelten wie sonst im Land. Noch vor kurzem galt das für den politischen Mainstream Schwedens als Rassismus.

Der Blick der schwedischen Polizei richtet sich mit sehnsuchtsvollen Blicken aber auch nach Deutschland. Die Kollegen dort, so äußerten ranghohe Ordnungshüter nach Besuchen in Berlin und anderen Metropolen, hätten vor allem bei der schnellen Konfiszierung von Clan-Geldern und durch schärfere Waffengesetze ganz andere rechtliche Möglichkeiten. Der deutsche Weg sei der richtige – und klar: „Follow the money.“ Man sei da selbst vielleicht ein bisschen naiv gewesen.

Corona in Schweden: Jetzt der Lohn für den “Sonderweg”?

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Tegnell hält an seinen Annahmen fest.

22.09.2020

Corona-Maßnahmen

Kaum Anstiege in Schweden

  • von Thomas Borchert

Stockholm fühlt sich in seinem Kurs bestätigt und will weiterhin keine Maskenpflicht.

Zum zweiten Mal scheint Schweden die große Corona-Ausnahme in Europa zu werden: Wer Anfang der Woche die großen Stockholmer Zeitungen aufschlug oder TV-Nachrichten verfolgte, fand das in anderen Ländern wieder riesige Thema nur unter „ferner liefen“. Die Infektionszahlen blieben konstant niedrig, niemand schien offenbar die Notwendigkeit für Alarm mit dem Ruf nach neuen Restriktionen wie fast überall sonst in Europa zu sehen.

Aber wie schwer berechenbar sich das Virus entwickelt, wurde am Mittwoch klar: Jetzt verbreitete auch Schwedens mächtiger Corona-Chefstratege Anders Tegnell nach neuesten Zahlen aus der Hauptstadtregion den ersten Warnruf: „Wir müssen wohl mit Stockholm diskutieren, ob extra etwas getan werden muss.“ Hier gibt es erstmals seit langem wieder steigende Zahlen.https://embeds.fanmatics.com/?campaignId=98069297&referrer=https%3A%2F%2Fwww.fr.de%2Fpolitik%2Fkaum-anstiege-in-schweden-90050523.html

Kurz vorher noch hatte Tegnell als Hauptverantwortlicher für das Nein zu einem Lockdown bei der ersten Welle in Interviews auf Erfolge verwiesen. So lag bisher im September die Quote der Infizierten bei den Nachbarn in Dänemark nach ihrem schnellen und harten Lockdown mit 48,5 Personen je 100 000 Einwohnern mehr als doppelt so hoch wie in Schweden mit 22,2. Die aktuelle Quote bei den Todesfällen ist in Dänemark mit 0,2 doppelt so hoch wie in Schweden mit 0,1.

Vor allem die sehr hohe schwedische Zahl der Verstorbenen in den ersten Monaten der Pandemie mit bisher 5884 Opfern hatte Tegnell und dem schwedischen Sonderweg harte Kritik eingebracht. Sie liegt im Verhältnis zur Bevölkerungszahl immer noch um ein Vielfaches über der Zahl der Toten von Dänemark (640) und auch der in Deutschland mit knapp unter 10 000.

Viele Tote in Altersheimen

Tegnell hält daran fest, dass die hohe Totenzahl vor allem auf den zu Beginn der Epidemie unzureichenden Schutz von alten Menschen in Pflegeeinrichtungen zurückzuführen war. Er kann unter anderem auf aktuelles Lob auch der Weltgesundheitsorganisation verweisen, die Schweden für das Offenhalten der Schulen seit März gelobt hat. Selbst lobt sich Tegnell dafür, dass sein Land dabei im Gegensatz zu anderen vorher weltweit als richtig anerkannte Pandemiestrategien umgesetzt habe. Das gelte auch für die allseits, aber nicht von Schweden verfügten Grenzschließungen: „Ich glaube nicht, dass die irgendeinen Effekt gehabt haben.“

Umgekehrt sind im größten Land Skandinaviens andere Maßnahmen schärfer ausgefallen als anderswo. Erst zum 1. Oktober wird das für alle Altenheime geltende Besuchsverbot aufgehoben. Auch am Versammlungsverbot für mehr als 50 Menschen hat Tegnells „Volksgesundheitsbehörde“ eisern festgehalten, als anderswo schon wieder die Fußballstadien geöffnet wurden.

An einer anderen Entscheidung hält Schweden auch noch fest: Es gibt nach wie vor keine Maskenpflicht. Sie soll nur eingeführt werden, wenn die Infektionszahlen drastisch steigen.

Corona: Norwegens Regierung legt sich for Tom Cruise flach

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Mission: Possible

  • von Thomas Borchert
  • 10.9.2020

Für Tom Cruise scheint nichts unmöglich: Er dreht die Fortsetzung seiner legendären Actionfilmreihe derzeit in Norwegen – trotz Corona-Restriktionen und politischem Gegenwind aus mehreren Richtungen.

Home Office ist für Actionhelden wie Ethan Hunt keine Option. Und so donnert, hechtet und hüpft sein Darsteller Tom Cruise für „Mission: Impossible 7“ trotz auch in Norwegen steigender Covid-Infektionszahlen durch eine atemberaubende Fjord- und Berglandschaft. Einen Monat lang dreht der 58-Jährige am westlichen Ende Skandinaviens die spektakulären Stunts für sein Kino-Epos und entzückt ganze Heerscharen von ortsansässigen Hobbyfilmerinnen und Hobbyfilmern.

Sie setzen aus der sicheren Ferne ihre Smartphones in Gang, wenn Cruise mit seinem Motorrad auf eine gigantische, eigens für den Film zusammengeschraubte Bergrampe rast, vom nackten Steilfels Helsetkopen 1246 Meter in die Tiefe stürzt und mit dem Fallschirm sicher auf eine saftig grüne Wiese schwebt.

Die große Begeisterung über den trotz näher rückenden Rentenalters offenbar topfitten und mit Corona-Maske geduldig für Selfies zur Verfügung stehenden Hollywoodstars teilen aber nicht alle. Normalbürgerinnen und -bürger in West-Norwegens Großstadt Bergen bekommen gerade wegen kräftig steigender Infektionszahlen neue schmerzhafte Restriktionen verordnet.

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Schwer zu erkennen, aber er ist’s tatsächlich: Cruise macht seine Stunts am liebsten selbst. © Geir Olsen/NTB scanpix/dpa

Versammlungen mit mehr als zehn Personen etwa sind wieder verboten und allen Norwegerinnen und Norwegern wird von Reisen ohne triftigen Grund in die zweitgrößte Stadt ihres Landes abgeraten. Aber Bergen ist nicht Hollywood und Tom Cruise eben ein steinreicher Weltstar.

Als er im Sommer wohl wegen der strengen Einreisebeschränkungen verbreiten ließ, er wünsche direkten Kontakt zu Ministerpräsidentin Erna Solberg, war ihm Kulturminister Abid Raja zu Diensten: „Ich stehe jederzeit bereit.“ Raja verbreitete das folgende Kurz-Telefonat selbst als Video: „Wer ist da? Tom Cruise? Oh mein Gott.“ Er hoffe so sehr, dass seine Regierung „diese Corona-Situation für die Filmcrew lösen kann. Und natürlich für andere.“

Auch habe er selbst schon mal in so einer Felswand gehangen wie Cruise in „Mission: Impossible 6“. Oslo hat indes unter anderem grünes Licht für die Unterbringung der 200 Personen starken Crew auf dem Kreuzfahrtschiff „Fritjof Nansen“ der Reederei Hurtigruten gegeben.

Cruise, auch als Produzent an „Mission: Impossible“ beteiligt, soll dafür laut der britischen „Sun“ aus eigener Tasche 700 000 Dollar hingeblättert haben, um noch teurere Verzögerungen im Drehplan zu umschiffen. Hurtigruten dürfte ihm einen guten Preis gemacht haben, denn das Geschäft liegt infolge der Pandemie still. Die Kreuzfahrtreederei machte erst vor einem Monat Schlagzeilen, als auf der „Roald Amundsen“ 41 Crewmitglieder und 21 Gäste in Tromsø positiv auf das Virus getestet wurden.

Gleich mehrere norwegische Gewerkschaften allerdings stört an diesem Deal zwischen Cruise und Hurtigruten ein ganz anderes Problem. Sie erstatteten kurz vor Beginn der Dreharbeiten in Norwegen Anzeige, weil die Schiffsbesatzung fast ausschließlich aus Filipinos besteht, die laut den Gewerkschaftsinformationen für einen Bruchteil des norwegischen Mindestlohnes arbeiten und für einen längeren Betrieb als Hotelschiff überhaupt keine Arbeits- oder Aufenthaltsgenehmigungen haben sollen.

Norwegens Wirtschaftsministerin Iselin Nybø musste zugeben, dass man da wohl nicht genau genug hingeschaut habe. Die Reederei Hurtigruten beeilte sich mit der Versicherung, dass „natürlich“ norwegische Löhne ausgezahlt würden. Tom Cruise kann derweil weiter seine Stunts ausführen, während in Oslo innenpolitisch gestritten wird. Oppositionssprecher Terje Aaslund von der Arbeiterpartei bringt es halb englisch auf den Punkt: „Es scheint als, sei unsere Regierung starstruck.“

Rezension von Ben Lerner, Die Topeka Schule

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«Die Topeka Schule»

„Die Topeka Schule“ begeistert auch Obama

8. September 2020

Thomas Borchert

Amber erzählt ihrem Adam von abrupt beendeten Mahlzeiten mit dem Stiefvater und „wie scheißjämmerlich dieser Typ ist“: „Er merkt immer noch nicht, dass das Publikum nach Hause gegangen ist, während er einfach immer weiterlabert.“

Der Zuhörer, 17 Jahre alt und wortgewandter Sieger bei Debattierwettbewerben, zürnt der Freundin, weil sie mitten in einer Bootspartie plötzlich laut- und spurlos verschwunden ist. „Adam sollte zwanzig Jahre brauchen, um die Analogie zwischen diesen beiden heimlichen Fluchten, der aus dem Esszimmer und der von dem Boot, zu begreifen.“

Diese zwei Jahrzehnte umspannt Ben Lerners Autofiktion-Roman „Die Topeka Schule“. Der Autor, 1979 im kleinen Topeka/Kansas geboren, als Gymnasiast US-Meister im Debattieren und jetzt ein Lieblingsautor von Barack Obama, zieht im Schlusskapitel als Ich-Erzähler mit seinen zwei Töchtern wortreich sowie höflich gegen einen „schlechten Vater“ zu Felde, der seinen Sohn andere Kinder terrorisieren lässt. Auch hier begreift er nur mit Verzögerung: „Erst als ich es auf den Asphalt klappern hörte, wurde mir voll bewusst, dass ich ihm das Telefon aus der Hand geschlagen hatte.“

Mit wechselnden Stimmen erzählt Lerner von der Grenze sprachlicher Verständigung in Adams Jugendjahren, als Bill Clinton 1997 zum zweiten Mal Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Adams Eltern Jonathan und Jane kommen im Wechsel mit dem Sohn zu Wort. Beide sind als Psychiater mit ihren 68er-Ideen im Gepäck aus New York in die Provinz des Mittleren Westens gezogen, hier bestens etabliert und im Fall der Mutter mit einem feministischen Bestseller auch zu Ruhm und einer Menge mehr Geld als der Ehemann gelangt. Wie im wirklichen Leben die Mutter Harriet Lerner.

Der Vater behandelt vorzugsweise „lost boys“, gestörte Jungen aus kaputten Familie ohne Geld und Bildung, darunter auch den mit Adam gleichaltrigen Darren, der vierten und so ganz anderen Hauptperson in eigenen Kapiteln. Die netten 68er-Eltern mit Geld und Bildung, zur Glanzzeit Clintons in den USA Teil der Trendsetter, sehen es gern, dass Adam und seine Mitteklasse-Clique Darren ins sozial so hübsch aussehende Schlepptau nehmen. Aber das wird nicht gut gehen, in entscheidenden Augenblicken zeigen sich Klassenschranken genauso erbarmungslos wie das Gefälle zwischen den Wortmächtigen und denen ohne jede Macht. Heute wäre dieser Darren mit seinen gut 40 Jahren, das ist klar, Trump-Wähler.

So wie Adams Coach bei den Debattier-Meisterschaften, angeheuert als politisch nicht ernstzunehmender, aber brillanter Rastelli für die immer unschlagbare Redestrategie, egal um was es geht, zehn Jahre später „zum Schlüsselarchitekten der rechtesten Regierung wird, die Kansas je erlebt hat“. Was kann wohl schiefgegangen sein, als in die USA die linksliberale Mittelschicht mit Clinton an der Spitze eigentlich dachte, sie habe endgültig gewonnen?

In seine, wie es nun mal zugeht bei den Autofiktionalen von Karl Ove Knausgaard bis Rachel Cusk, narzisstische Ausbreitung der eigenen Geschichte bringt Lerner unangestrengt und eindringlich zugleich diese politische Dimension. Sie ist ausgeprägt US-amerikanisch, etwa mit den hierzulande wenig verbreiteten Debatten-Meisterschaften, bei denen der Inhalt beliebig austauschbar und der Sieg über andere alles entscheidend ist. Andererseits versteht man Talkshows und Wahlkampfdebatten im Fernsehen wohl auch diesseits des Atlantik längst so. Lerner konstruiert mitunter etwas zu offensichtlich, etwa wenn es um den hochexplosiven Sexualneid des „Unterschicht“-Kids Darren geht, der bei den begehrten Mittel- und Oberklassemädels dann doch nicht landen kann. Andererseits ist es Darrens Geschichte, die dem Buch Drive und Spannung verschafft.

„Die Topeka-Schule“ ist mit dieser Personengalerie randvoll spannender und origineller Blicke sowohl als individuelle Coming-of-Age-Geschichte wie auch als Zeit- und Gesellschaftsbild. Vor Obama hat Lerner jenseits des Atlantik auch den nimmermüden Alexander Kluge als erklärten Fan gewonnen. Der inzwischen 88-Jährige war von Gedichten dieses fast ein halbes Jahrhundert jüngeren Autoren so begeistert, dass er dazu Essays schrieb und mit Lerner das Gemeinschaftswerk, „Schnee über Venedig“ (2018, Spector Books) herausgebracht hat.

Im eigenen Land machte sich der in New York als Literaturprofessor auch akademisch etablierte Autor schon mit seinen ersten beiden, ebenfalls autofiktionalen Romanen „Abschied von Atocha“ und „22:04“ einen Namen. Mit der „Topeka-Schule“ hat er es unter die letzten Drei für den Pulitzerpreis dieses Jahres gebracht, der dann an den zehn Jahre älteren Colin Whitehead für „Die Nickel Boys“ ging. Vielleicht sieht Lerner die Konkurrenz um Literaturpreise so wie in jüngeren Jahren die Debatten-Meisterschaften: „Rituelles Zungenreden“.

– Ben Lerner: Die Topeka Schule, Suhrkamp Verlag, Berlin, 395 Seiten, 24.00 Euro, ISBN: 978-3-518-42949-5.