Rezension von Ben Lerner, Die Topeka Schule


„Die Topeka Schule“ begeistert auch Obama
8. September 2020
Thomas Borchert

Amber erzählt ihrem Adam von abrupt beendeten Mahlzeiten mit dem Stiefvater und „wie scheißjämmerlich dieser Typ ist“: „Er merkt immer noch nicht, dass das Publikum nach Hause gegangen ist, während er einfach immer weiterlabert.“
Der Zuhörer, 17 Jahre alt und wortgewandter Sieger bei Debattierwettbewerben, zürnt der Freundin, weil sie mitten in einer Bootspartie plötzlich laut- und spurlos verschwunden ist. „Adam sollte zwanzig Jahre brauchen, um die Analogie zwischen diesen beiden heimlichen Fluchten, der aus dem Esszimmer und der von dem Boot, zu begreifen.“
Diese zwei Jahrzehnte umspannt Ben Lerners Autofiktion-Roman „Die Topeka Schule“. Der Autor, 1979 im kleinen Topeka/Kansas geboren, als Gymnasiast US-Meister im Debattieren und jetzt ein Lieblingsautor von Barack Obama, zieht im Schlusskapitel als Ich-Erzähler mit seinen zwei Töchtern wortreich sowie höflich gegen einen „schlechten Vater“ zu Felde, der seinen Sohn andere Kinder terrorisieren lässt. Auch hier begreift er nur mit Verzögerung: „Erst als ich es auf den Asphalt klappern hörte, wurde mir voll bewusst, dass ich ihm das Telefon aus der Hand geschlagen hatte.“
Mit wechselnden Stimmen erzählt Lerner von der Grenze sprachlicher Verständigung in Adams Jugendjahren, als Bill Clinton 1997 zum zweiten Mal Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Adams Eltern Jonathan und Jane kommen im Wechsel mit dem Sohn zu Wort. Beide sind als Psychiater mit ihren 68er-Ideen im Gepäck aus New York in die Provinz des Mittleren Westens gezogen, hier bestens etabliert und im Fall der Mutter mit einem feministischen Bestseller auch zu Ruhm und einer Menge mehr Geld als der Ehemann gelangt. Wie im wirklichen Leben die Mutter Harriet Lerner.
Der Vater behandelt vorzugsweise „lost boys“, gestörte Jungen aus kaputten Familie ohne Geld und Bildung, darunter auch den mit Adam gleichaltrigen Darren, der vierten und so ganz anderen Hauptperson in eigenen Kapiteln. Die netten 68er-Eltern mit Geld und Bildung, zur Glanzzeit Clintons in den USA Teil der Trendsetter, sehen es gern, dass Adam und seine Mitteklasse-Clique Darren ins sozial so hübsch aussehende Schlepptau nehmen. Aber das wird nicht gut gehen, in entscheidenden Augenblicken zeigen sich Klassenschranken genauso erbarmungslos wie das Gefälle zwischen den Wortmächtigen und denen ohne jede Macht. Heute wäre dieser Darren mit seinen gut 40 Jahren, das ist klar, Trump-Wähler.
So wie Adams Coach bei den Debattier-Meisterschaften, angeheuert als politisch nicht ernstzunehmender, aber brillanter Rastelli für die immer unschlagbare Redestrategie, egal um was es geht, zehn Jahre später „zum Schlüsselarchitekten der rechtesten Regierung wird, die Kansas je erlebt hat“. Was kann wohl schiefgegangen sein, als in die USA die linksliberale Mittelschicht mit Clinton an der Spitze eigentlich dachte, sie habe endgültig gewonnen?
In seine, wie es nun mal zugeht bei den Autofiktionalen von Karl Ove Knausgaard bis Rachel Cusk, narzisstische Ausbreitung der eigenen Geschichte bringt Lerner unangestrengt und eindringlich zugleich diese politische Dimension. Sie ist ausgeprägt US-amerikanisch, etwa mit den hierzulande wenig verbreiteten Debatten-Meisterschaften, bei denen der Inhalt beliebig austauschbar und der Sieg über andere alles entscheidend ist. Andererseits versteht man Talkshows und Wahlkampfdebatten im Fernsehen wohl auch diesseits des Atlantik längst so. Lerner konstruiert mitunter etwas zu offensichtlich, etwa wenn es um den hochexplosiven Sexualneid des „Unterschicht“-Kids Darren geht, der bei den begehrten Mittel- und Oberklassemädels dann doch nicht landen kann. Andererseits ist es Darrens Geschichte, die dem Buch Drive und Spannung verschafft.
„Die Topeka-Schule“ ist mit dieser Personengalerie randvoll spannender und origineller Blicke sowohl als individuelle Coming-of-Age-Geschichte wie auch als Zeit- und Gesellschaftsbild. Vor Obama hat Lerner jenseits des Atlantik auch den nimmermüden Alexander Kluge als erklärten Fan gewonnen. Der inzwischen 88-Jährige war von Gedichten dieses fast ein halbes Jahrhundert jüngeren Autoren so begeistert, dass er dazu Essays schrieb und mit Lerner das Gemeinschaftswerk, „Schnee über Venedig“ (2018, Spector Books) herausgebracht hat.
Im eigenen Land machte sich der in New York als Literaturprofessor auch akademisch etablierte Autor schon mit seinen ersten beiden, ebenfalls autofiktionalen Romanen „Abschied von Atocha“ und „22:04“ einen Namen. Mit der „Topeka-Schule“ hat er es unter die letzten Drei für den Pulitzerpreis dieses Jahres gebracht, der dann an den zehn Jahre älteren Colin Whitehead für „Die Nickel Boys“ ging. Vielleicht sieht Lerner die Konkurrenz um Literaturpreise so wie in jüngeren Jahren die Debatten-Meisterschaften: „Rituelles Zungenreden“.
– Ben Lerner: Die Topeka Schule, Suhrkamp Verlag, Berlin, 395 Seiten, 24.00 Euro, ISBN: 978-3-518-42949-5.