Interview mit Sipri-Direktor Dan Smith: Risiko von Atomkrieg “auf neuem Niveau”

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Frankfurter Rundschau - 13.06.2022

"Der Einsatz wird erwogen"
Sipri-Direktor Dan Smith warnt vor neuen Strategien aller neun Atommächte und einem höheren Niveau von Gefahr und Risiko
Herr Smith, ein Einsatz von Atomwaffen erscheint seit den russischen Drohungen im Ukraine-Krieg als realistische Möglichkeit. Müssen sich die Menschen auch Sorgen über die anderen acht Atommächte auf der Welt machen?

Es geht im Kern um Szenarien als Folge des Ukraine-Krieges. Derzeit würde ich mir keine derartigen Sorgen über die Nuklearwaffen im Südpazifik oder Korea oder Israel machen. Aber sollte Russland tatsächlich Atomwaffen in der Ukraine einsetzen, würde das die Frage nach möglichen Antworten der USA, Großbritanniens und Frankreichs aufbringen. Würden die dann wiederum Atomwaffen einsetzen, hätte das die Frage einer Reaktion Chinas zur Folge.

Sie sagen, das Risiko der Anwendung von Atomwaffen sei so hoch wie nie zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Was sind die wichtigsten Gründe?

Im Zentrum steht Russlands ausdrückliche Warnung, man könne Kernwaffen anwenden. Dazu kommt, dass deren Entwicklung und vor allem die Doktrinen rund um Atomwaffen in den letzten Jahren augenscheinlich in die Richtung gehen, wie man durch ihre Anwendung militärische Vorteile erzielen kann. Anstatt sie nur als Mittel zur Abschreckung anzusehen. Die Erwägung von Atomwaffeneinsatz für militärische Vorteile bedeutet ein neues Niveau für Gefahren und Risiken.

Noch immer sind 90 Prozent aller Atomwaffen in russischem oder US-Besitz. Gibt es Anzeichen für geopolitische Machtverschiebungen?

Wir sehen Indizien, dass China sich anschickt, sein Arsenal auszubauen mit dem Ziel, zu einer weit gewichtigeren Atommacht aufzusteigen. Noch verfügt das Land nur über zehn Prozent des US-Arsenals. Ansonsten reflektieren unsere aktuellen Nuklear-Statistiken die Verschlechterung der amerikanisch-russischen Beziehungen, aber keine Veränderung der Machtverhältnisse.

Gibt es einen Grund zur Hoffnung für die Menschen, die auf eine von Atomwaffen freie Welt hoffen?

Zum einen haben alle fünf permanenten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat am 3. Januar, bevor der Ukraine-Krieg begann, die Deklaration von Gorbatschow und Reagan aus dem Jahr 1985 bekräftigt, wonach ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und deshalb nie geführt werden darf. Das zweite Hoffnungszeichen bei all den wahrlich dunklen Wolken: Gerade wegen des Krieges in der Ukraine und der Äußerungen von Präsident Putin sowie maßgeblichen Repräsentanten Russlands über die mögliche Anwendung von Atomwaffen sprechen Menschen jetzt wieder über dieses Problem und denken darüber nach. Das Schlimmste während der letzten Jahre war dieses behäbige Schweigen zu Atomwaffen aus Desinteresse. Die derzeit 12 705 Atomwaffen sind viel weniger als die 70 000 Mitte der 80er Jahre. Aber die 12 705 können alles Leben auf unserem Planeten weiter komplett auslöschen. Das sollte schon ein Grund zur Sorge sein. Die einzige Möglichkeit, Politiker:innen zum Handeln zu bewegen besteht darin, dass die Menschen diese Sorge auf die Tagesordnung bringen. Die Tatsache, dass wir diese Thematik jetzt weit intensiver diskutieren, ist Anlass zu einem gewissen Grad an Optimismus.

Interview: Thomas Borchert

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