Berlin/Kopenhagen. Eine frische, originelle Erzählerstimme kommt aus Dänemark: Christina Hesselholdts Roman “Gefährten” klingt wie das schwungvoll schöne, ganz und gar neuartige Lied aus dem Radio, das man unbedingt wieder hören möchte.
Auch weil verblüffend schnelle Wechsel zwischen Dur und Moll und raffinierte Rhythmen die Neugier immer wieder neu wecken.
Die Kopenhagener Autorin lässt drei Frauen und drei Männer, befreundet und auch mal liiert, abwechselnd zu Wort kommen. Sie erzählen in Echtzeit aus den Jahren zwischen Mitte 30 und Mitte/Ende 40, grübeln, träumen, assoziieren frei herum, witzeln, trauern, machen sich Gedanken über ihre Partner und Freunde. “Innerer Monolog” der literarische Terminus. Hesselholdt, Jahrgang 1962 und daheim seit langem ein Name, füllt diese gut 400 Seiten von der ersten fast bis zur letzten so zugänglich, abwechslungsreich, sprachlich elegant und voller überraschender Bilder, dass das Fehlen der durchgehenden Handlung immer weniger auffällt. Man muss sich allerdings ein bisschen einschwingen.
Camilla, ein Alter Ego der Autorin, steht im Zentrum. Mindestens so wichtig wie ihre Partnerschaft mit Charles, endlos vom kranken Rücken ans Bett gefesselt, woran die Beziehung auch scheitert, ist ihr die Freundschaft von Kindesbeinen an mit Alma. Diese zweite Stimme im Buch ist Camillas “Navigationssystem”. “Unsere Jugend war eine einzige Läufigkeit, eine Aneinanderreihung herrlicher Erinnerungen, eine ganze Vorratskammer voll junger, purer Leidenschaft für entbehrungsreichere Zeiten”, notiert sie, als letztere mit dem Älterwerden, dem Ringen um ein erfülltes Single-Dasein und dem langsamen Sterben der krebskranken Mutter längst eingeläutet sind. Auch mit dem Mutter-Porträt gelingt Hesselholdt das wunderbare Kunststück, den nie endenden, oft unvermittelten Wechsel von Katastrophe, Scheitern, Entfremdung und immer neu, wenn auch oft krummbucklig erwachender Lebensfreude und Zuneigung unsentimental, mit Sinn für Komik und ganz eigener Poesie in Worte zu fassen.
Zum Gespräch über ihr Buch lädt Christina Hesselholdt in ihr reetgedecktes Sommerhaus am Roskilde Fjord, das sie von ihrer Mutter exakt so geerbt hat, wie von Camilla im Buch erzählt. “Die Idee mit den inneren Monologen kam mir beim Kapitel über Camilla und Charles, wie sie als frisch Verliebte den 11. September erst mit einem Tag Verzögerung begreifen, weil sie kaum aus dem Bett kommen und für nichts anderes Augen oder Ohren haben.” Die Idee habe gehalten, danach sei die Sache mit der Form sehr leicht gewesen. So liest es sich auch.
Vom Schreiben leben vier der sechs Freunde. Hinzu kommen der notorisch skeptische Arzt Kristian, von Alma verlassen, und die scharfsinnige, genussfreudige Lehrerin Alwilda. Sie war mal mit Ewald und kommt irgendwann mit Kristian zusammen. Hesselholdt interessiert das Gewirr der kleinen, schrägen Erlebnisse, Gedanken- oder Gefühlsblitze, die vielleicht die entscheidenden sind.
Das Auf und Ab der Paarbeziehungen und hin und wieder Sex, munter unaufgeregt bis frech vor allem aus weiblicher Sicht erzählt, füllen das Buch gut, dominieren es aber nicht. Überhaupt geht es ein bisschen mehr um die Frauen. Keinen der Sechs, alle fast bis zum Ende kinderlos, lässt Hesselholdt über das traditionelle Familienmuster mit lebenslanger Ehe inklusive Kinderschar grübeln. Wohl hier als Auslaufmodell innerlich abgehakt. Was bleibt? Die Gefährten.
Ein blinder Fleck dieser Gemeinschaft und auch des Romans ist die Politik. Kristian, sowieso der ewige Nörgler, haut ein paarmal komplett unvermittelt und auf erbärmlichen Niveau in die Runde, er wolle nach Syrien, “um zu kämpfen”. Ansonsten scheint die sie umgebende Gesellschaft für die Sechs politisch einfach nicht zu existieren. Sie habe sich selbst beim Erstarken der dänischen Rechtspopulisten mal mit Debattenbeiträgen in den Zeitungen versucht, sagt dazu Hesselholdt: “Es ist nur drittklassiges Zeug herausgekommen.” Dasselbe erzählt Alma von sich im Roman. Was sonst dazu hin und wieder kurz aufglimmt, bleibt ein Fremdkörper und floskelhaft, vor allem im auch sonst etwas zäher geratenen letzten Viertel.
Wo es doch sonst so ganz anders lebendig abgeht in diesem Buch. Putzmunter geht es aus dem Nichts auch los, wenn Camillas innerer Monolog um ihren Kauf eines Pferdes nach dem Abschied von Charles kreist. Unbeschwert auch führt Hesselholdt ihre literarischen Heldinnen, nebst ein paar Helden, als Lebensgefährten mit handfesten Geschichten oder Huldigungen an Bücher ein. Allen voran Virginia Woolf und Sylvia Plath, deren Domizile Camilla und Alma als hingebungsvolle Fans heimsuchen. Auch Iris Murdoch, Thomas Bernhard, Vladimir Nabokov und John Fowles sind Camilla unentbehrlich. Ganz am Ende knallt sie einen Nabokov-Roman vor Alma auf den Tisch: “Sei doch so nett und erbeute ein schönes Wort für mich.” In diesem Hesselholdt-Roman winkt fette Beute.
– Christina Hesselholdt: Gefährten, Hanser Berlin, 448 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-446-26042-9.