
Ulrike Hermann: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen – Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind, Westend Verlag, Frankfurt/Main, 256 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-86489-263-9. Westend Verlag/dpa
Von Thomas Borchert
Frankfurt/Main (dpa) – Wer den Mythos vom Wirtschaftswunder als urdeutscher Fleißarbeit so überzeugend zerpflückt, kann auch bei verblüffenden Schlussfolgerungen auf offene Ohren rechnen. Ulrike Hermann, Wirtschaftskorrespondentin der «taz» und Bestsellerautorin (zuletzt «Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung»), schließt ihr neues Buch über erfundene und faktische Gründe für den rasanten Wiederaufstieg nach 1945 mit Lob für zwei CDU-Kanzler: «Adenauer hörte nicht auf Erhard, als er sich für Europa entschied. Und Kohl ignorierte die Bundesbank, als er die deutsche Währungsunion forcierte.»
Beide Weichenstellungen, politisch gewagt gegen den Widerstand machtvoller Wirtschaftskräfte, hätten sich als richtig erwiesen. Das sollte «Mut machen, die ökologische Wende ernsthaft anzugehen» – gegen maue Scheinlösungen, die in Wirklichkeit nur den Status Quo erhalten und dies mit Hilfe schöner Worte oder frecher Lügen verkleistern.
Wie genau diese Mechanismen den Aufstieg der bundesdeutschen Wirtschaft nach Kriegsende geprägt haben, erzählt Hermann in «Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen». Der Mär vom beispiellosen Fleiß eines ganzen Volkes nach dem verlorenen Krieg, eingerahmt von der «sozialen Marktwirtschaft» als genial konstruiertem Fundament von Wohlstand für alle und beschützt von der unerschütterlich die Stabilität der D-Mark schützenden Bundesbank stellt sie nüchtern entgegen: Dieses «Wirtschaftswunder» fand in ganz Europa statt und war vor allem den Milliardenhilfen für den Wiederaufbau aus den USA zu verdanken.
Über die Frankfurter Bundesbank ist zu lesen, wie sie sich währungs- sowie zinspolitisch nicht nur einmal existenzgefährdend für das ganze Land vergaloppiert hat. Die angeblich so soziale Marktwirtschaft, heute auch von Kanzlerin Merkel bis zu Grünen-Politikern als Garant für Stabilität, sozialen Frieden und Wohlstand in den Himmel gehoben, ist für Hermann vor allem ein glänzend geglückter Propaganda-Coup mit Langzeitwirkung bis heute. In den ersten Nachkriegsjahren diente er als schöne Tünche der Sicherung von Macht und Reichtum alter Wirtschaftseliten aus der Nazi-Zeit
Genüsslich nimmt diese unterhaltsam erzählende und treffsicher zielende Autorin Ludwig Erhard als Schutzheiligen der sozialen Marktwirtschaft auseinander. Der erste CDU-Wirtschaftsminister wird von ihr biografisch als opportunistischer, geldgieriger Karrierist auch unter Hitler geschildert, dem nach 1945 keine Lüge auch mit Missbrauch hingerichteter Widerstandskämpfer zu schändlich war, sich reinzuwaschen. Erhards angeblich überragenden Wirtschaftssachverstand haut Ulrike Hermann so krachend und sauber belegt in die Tonne, dass am Ende nichts übrig bleibt. Aus dem ewig Zigarre schmauchenden, gemütlich dicken Wirtschaftsprofessor Erhard als Symbol für deutsche Wirtschaftserfolge macht sie wie das Mädchen im Andersen-Märchen einen Kaiser ohne Kleider.
Ihr «Der hat ja gar nichts an» liest sich faszinierend auch als Muster für die Entzauberung von inszenierten Mythen um Spitzenpolitiker heutzutage. Trotzdem füllt Erhard bis hin zu allerlei familiären Verwicklungen ein bisschen viel im Buch. Denn Hermann hat noch so viel anderes Märchenhafte aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte gegen den Strich zu bürsten: Warum die Wiedervereinigung entgegen den geläufigen Klagen «teuer und trotzdem kostenlos» zu bekommen war, wie Rot-Grün unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder das Unsoziale der sozialen Marktwirtschaft geradezu radikal ausbaute und Deutschland endgültig zum «Paradies für Reiche» machte.
Auch beim Durchleuchten der deutschen Rolle in der Finanzkrise ab 2007 und der Eurokrise entblättert Hermann faktenreich und mit elegant entfalteter Logik das auch wieder im kollektiven Bewusstsein verankerte Narrativ von Deutschland als «Zahlmeister Europas» als Schönfärberei.
Man liest diese 250 Seiten spannender Wirtschaftsgeschichte auch als brandaktuelle Wortmeldung. Die Autorin lenkt den Blick durch den Nebelschleier um die Marktwirtschaft nach vorn: «Erhards Konzepte waren immer falsch, aber in den nächsten Jahren könnten sie die Zukunft kosten.» Ihr Beispiel: Zwischen 1990 und 2015 sei die deutsche Energieeffizienz zwar um 50 Prozent gestiegen, das Wachstum die deutsche Wirtschaft aber zugleich so kräftig ausgefallen, dass der CO2-Ausstoß kaum sank. Die gelernte Bankkauffrau Hermann warnt, wie immer ohne das geringste Pathos, vor einem neuen Märchen mit dem Versuch, Markt und Natur irgendwie gedanklich doch noch zu «versöhnen»: «Die Lieblingsfrage: Sind Wachstum und Ökologie tatsächlich ein Widerspruch? Dabei ist die längst bekannte Antwort so schlicht wie eindeutig: Ja.»