Norweger wollen auf der Frankfurter Buchmesse “literarische Großmacht” sein

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Bücher in Norwegen

Wir müssen uns die Norweger als lesende Menschen vorstellen

  • von Thomas Borchert

Norwegen: Ein Staat investiert in Bücher, das ist komfortabel für Verlage und die beeindruckende Anzahl von Bibliotheksnutzern.Bücherwelten für die Zukunft: Die öffentliche Bibliothek von Vennesla (weniger als 15 000 Einwohner), 2011 fertiggestellt. 

Bücherwelten für die Zukunft: Die öffentliche Bibliothek von Vennesla (weniger als 15 000 Einwohner), 2011 fertiggestellt.

 

Die Autorinnen und Autoren im dank Öl und Gas steinreichen Norwegen haben erstaunlich gute Bedingungen für einen Sprachraum mit gerade einmal 5,2 Millionen Menschen. Der Anteil von täglich in Büchern aus bedrucktem Papier lesenden Bürgern ist von unter 20 Prozent in den neunziger Jahren auf jetzt etwa 25 Prozent gestiegen. Die durchschnittliche Lesedauer liegt bei einer Stunde pro Tag. Bücher, egal ob aus Papier oder in digitaler Form, sind von der Mehrwertsteuer bei weitgehender Preisbindung befreit.

Der Staat sorgt mit der garantierten Mindestabnahme von Neuerscheinungen und deren Verteilung auf Bibliotheken für ein beachtliches Fundament, auf dem Verlage ihre Planung aufbauen können. Autoren werden über Kollektivvereinbarungen zwischen Verleger- und Autorenverband entlohnt. Im Jahr 2018 haben 54 Prozent der Bevölkerung eine Bibliothek besucht, während es 1974 noch 25 und 2014 noch 40 Prozent waren.

Mit entsprechend breiter Brust wurde der Gastland-Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse vorbereitet. Das ist mal eine Programmerklärung gewesen: „Unser Ziel als Gastland in Frankfurt lautet, dass Norwegen sich als literarische Großmacht präsentiert.“ Von Skandinaviern mit den dünnen Bevölkerungszahlen im kalten Norden ist man doch eher augenzwinkerndes Understatement gewöhnt. Der diesjährige Ehrengast hat aber schon mit dem eigenen Entré pfiffig und auch medienbewusst bewiesen, dass hier nicht gekleckert werden soll: Prinzessin Mette-Marit, populärstes Mitglied des Osloer Königshauses und bekennende Leserin, reiste im eigenen „Literaturzug“ Richtung Main. Jedenfalls ab Berlin und über Köln. In beiden Städten ist Mette-Marit bereits zusammen mit schreibenden Landsleuten in Schulen, Buchhandlungen und bei Lesungen aufgetreten (zur Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof am Dienstag siehe Seite L8).

Genauso bereist die 46-Jährige ihr Heimatland jedes Jahr im Frühsommer. „Ein Leben ohne Bücher kann ich mir nicht vorstellen“, erzählt sie im „Litteraturtoget“ und schwärmt von den Besuchen als ganz normales Bürgerkind jeden Samstag mit der Mutter in der Stadtbücherei ihrer Heimatstadt Kristiansand. Zu der späteren, für sie bis ins Mark erschütternden Lektüre von Karl Ove Knausgårds 3000 Seiten dicker Bestseller-Serie über sich selbst, erzählte Mette-Marit beim ersten „Literaturzug“ 2014 in der kleinen Volksbibliothek von Snåsa: „Als ich ihn das erste Mal las, war es, als sei in mir etwas zerbrochen, und als würde in meiner Brust ein großes Loch wachsen.“

Der Autor, vier Jahre älter als die Prinzessin und auch in Kristiansand aufgewachsen, stellt ins Zentrum des ersten Bandes seinen Kampf mit dem als Trinker untergegangenen Vater und dessen elendes Sterben. Sie habe als Kind den Alkoholismus ihres Vaters vor allen Freunden verborgen, sagt Mette-Marit: „Meine lebenslange Freude daran, in die Welt der Bücher abzutauchen, hat hier in starkem Maß seine Ursache.“ Bei Knausgårds Texten über den Vater brannte sich das Gefühl ein: „Er schreibt ja über meinen.“

Hundert Autorinnen und Autoren sind nach Frankfurt gereist, darunter die komplette Garde der bekanntesten wie Linn Ullmann, der Krimi-Autor Jo Nesbø, Tomas Espedal, Dag Solstad, Jon Fosse und Åsne Sejerstad. Bis auf Frankreich als Ehrengast 2017 habe sich kein Land mit solchem Aufwand auf der Buchmesse präsentiert, ist zu hören.

Der Jahr für Jahr als Dramatiker zu den Nobelpreisanwärtern gerechnete Jon Fosse war sich nicht zu fein, zusammen mit Kollegen per offenem Brief einen ordentlichen Schluck aus der Steuerpulle für den Auftritt in Frankfurt zu verlangen: „Ehrlich gesagt glaube ich, dass der Ehrengastauftritt Norwegens Wirtschaft insgesamt viel mehr Vorteile bringen wird als uns Autoren.“ Norla-Direktorin Margit Walsø sagt: „Der deutsche Buchmarkt ist ein Türöffner für den Rest der Welt.“ Die in der Tat großzügig geflossenen staatlichen Übersetzungshilfen sprechen für sich.

Also präsentiert sich jetzt in Frankfurt wirklich eine literarische Großmacht? Der 1941 geborene Dag Solstad hat in der zur Buchmesse aufgelegten Anthologie „Heimatland – und andere Geschichten aus Norwegen“ (Luchterhand Verlag) ungefragt seinen Kommentar abgegeben: „Ich sehe mich einfach nicht als einen Mann, der einer Großmacht angehört.“ Seine ganze Denkweise sei davon geprägt, dass er aus einem kleinen Land komme. Deshalb: „Wenn ich mir vorzustellen versuche, ich sei ein Deutscher, scheitere ich.“

Mit skandinavischer Selbstironie und gesundem literarischem Widerspruchsgeist fügt er an: „Als Einwohner eines kleinen Landes bin ich (…) umgeben von Landsleuten, denen es eine Ehre ist, sich der Übermacht zu beugen und sich dessen sogar zu rühmen.“ Die Co-Herausgeberin der Anthologie ist, wie könnte es anders sein, Prinzessin Mette-Marit und auch hier, wie könnte es anders sein, ganz auf der Seite des schreibenden Menschen: „Er entblößt sich selbst so gewaltig und überzeugend; es ist unglaublich, dass er das wagt. Es ist sehr schön.“

 

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