Selbstmorde unter jugendlichen Flüchtlingen: Ein Riesenproblem wird verdrängt
Schweden ist geschockt – aber untätig
Die hohe Suizidrate unter Geflüchteten hat politisch bislang keine Folgen, beklagen Helfer.
(Dieser Text ist Teil des”Topthemas” in der Frankfurter Rundschau über die vielen und offiziell in der Statistik verdrängten Selbstmorde von Flüchtlingen in Deutschland. Dass Schweden wenigstens konkrete Zahlen hat, ist eine Ausnahme in Europa.)
Zweimal haben in Schweden die Alarmglocken zu Suiziden unter Flüchtlingen unüberhörbar laut geschlagen. Anfang des Jahres schockierte ein Rapport aus dem Karolinska Institut mit der Zahl von 12 Suiziden unbegleiteter Kinder und Jugendlicher zwischen zehn und 21 Jahren im Jahr 2017, alle männlich und die meisten aus Afghanistan. Die Suizidquote lag knapp zehnmal höher als sonst bei dieser Altersgruppe in Schweden.
Zwölf Monate vor der Veröffentlichung des Berichts im Auftrag der Sozialbehörde hatten private Hilfsorganisationen mit ihren Warnungen Schlagzeilen gemacht: Selbsttötungen und Versuche würden sich häufen. In sozialen Medien machte eine Verabredung jugendlicher Flüchtlinge zu „kollektivem Suizid“ die Runde.
Die staatlichen Stellen konnten dazu keine Zahlen vorlegen, gaben aber eine Untersuchung in Auftrag. Ellenor Mittendorfer-Rutz vom Karolinska Institut sagt nach deren Abschluss: „Es ist uns unglaublich schwer gefallen, die nötigen Daten zusammenzutragen. Das kam komplett überraschend.“ Im Bericht selbst steht klipp und klar: „Unsere wichtigste Methode zur Datensammlung über Suizide waren die Erhebungen der Freiwilligen.“ Über die Behörden: „Es gibt insgesamt national keine Information oder Statistik zu Selbstschädigung, Suizide, Suizidversuche sowie andere Todesursachen bei der untersuchten Gruppe.“
Premier setzt auf Härte
Das ist fast unglaublich in einem auch statistisch mit der zehnstelligen Personennummer für jeden Bürger in allen Lebenslagen perfekt durchorganisierten Land wie Schweden. Diese Nummer eben hätten die allein kommenden Kinder und Jugendlichen bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag nicht, wird offiziell als Grund für das Statistikloch angeführt. Für Kinna Skoglund, deren Hilfsorganisation „Wir halten das nicht aus“ (Vi står inte ut) Alarm geschlagen hat, ist es nur eine faule Ausrede: „Dass die Todesursache eines Flüchtlings nicht registriert wird, zeigt uns auf schockierende Weise, wie unmenschlich unser Blick auf diese Gruppe geworden ist.“
Registriert würden Suizide und andere Todesursachen schon, sagt Mittendorfer-Rutz dazu. Nur sind die Daten eben schwer zugänglich. Sie weist darauf hin, dass Schwedens Behörden 2015 heillos überfordert gewesen seien, als 35 000 unbegleitete Minderjährige und 160 000 Flüchtlinge insgesamt hier Asyl beantragten. Im Verhältnis zu den zehn Millionen Bürgern deutlich mehr als in Deutschland. Die lange Wartezeit von jetzt durchschnittlich 538 Tagen auf den Asylentscheid nennt Petra Rinman von der Sozialbehörde als einen von mehren Faktoren bei der hohen Suizidquote unter jugendlichen Flüchtlingen. Es gehe immer „um Erlebnisse vor sowie während der Flucht und um die Lage in Schweden“.
Letztere verändert sich für die Betroffenen rasant und auch chaotisch. Der sozialdemokratische Premier Stefan Löfven will seine Wiederwahl im September mit maximaler Härte gegen Flüchtlingen sichern. Schweden schiebt nach Afghanistan ab, das als vermeintlich „sicheres Land“ gilt. Tausende Geflüchtete sind deshalb in die Illegalität abgetaucht oder versuchen es in einem anderen EU-Land neu. Andererseits hat sich Löfven von seinem grünen Koalitionspartner ein Bleiberecht für 9000 vor Ende 2015 gekommene Minderjährige aus diesem Land abringen lassen.
Zu möglichen Konsequenzen für die schreckliche Statistik meint Kinna Skoglund von „Wir halten es nicht aus“: „Im Moment ist die Lage ganz gut unter Kontrolle. Aber wenn neue Regeln in Kraft treten, ist die Gefahr für Chaos gewaltig groß. Die Experten bei den Behörden sind genauso geschockt wie wir, dass die Politik das Suizidproblem einfach nicht ernst nimmt.“
Hier der Haupttext in der Frankfurter Rundschau zur Lage in Deutschland:
Die Not der Flüchtlinge Der ignorierte Tod
Immer wieder nehmen sich Geflüchtete in Deutschland das Leben – das Bundesinnenministerium findet es tragisch, will aber weiter nichts davon wissen.

Die Behördensprache ist nüchtern: Es seien „im Vorfeld keine Anzeichen für Eigen- oder Fremdgefährdung oder Risikofaktoren, die auf einen Suizid hindeuten können, erkennbar gewesen. Jedoch sei der Verstorbenen am Tag ihres Todes mitgeteilt worden, dass ihr Antrag auf Asylanerkennung ebenso wie die Anerkennung als Flüchtling abgelehnt worden sei …“. Es geht um eine 17-jährige Frau aus Eritrea, die im Februar 2017 in Sachsen Suizid begangen hat.
Der vermutlich jüngste wahrscheinliche Suizid eines Flüchtlings in Deutschland ereignete sich in der Nacht zum 1. Mai in Apolda, Thüringen. Ein junger Mann aus dem Irak starb. Das zuständige Ausländeramt teilt dazu auf Anfrage mit: „Ja, es wird bestätigt, dass es am 1. Mai 2018 einen Unglücksfall in einem Wohnheim in Apolda gab, in dessen Folge ein junger Iraker ums Leben kam. Wir bitten jedoch um Verständnis, dass aufgrund der noch laufenden Ermittlungen keine näheren Auskünfte gegeben werden können.“
Nach FR-Informationen hatte die Polizei in der internen Tageslage von einem Suizid gesprochen. Auffällig: Nur wenige Tage zuvor hatte eine junge Eritreerin, für die ebenfalls das Ausländeramt Apolda zuständig war, sich und ihr Kleinkind getötet.
Wenig öffentliche Information
Wer versucht herauszufinden, ob sich die Suizide unter Flüchtlingen in Deutschland häufen, ob sie in einzelnen Bundesländern oder Kreisen überdurchschnittlich oft vorkommen, findet nur wenige öffentliche Informationen. Die Linkspartei und die Grünen versuchen in einigen Bundesländern durch parlamentarische Anfragen das Thema auszuleuchten. So verweist Hamburg auf Anfrage auf die entsprechenden parlamentarischen Auskünfte dazu: Demnach haben in der Hansestadt in den vergangenen drei Jahren zwei Flüchtlinge Suizid begangen, rund 40 haben wiederum versucht, sich das Leben zu nehmen. In Hessen ergab eine Kleine Anfrage der Linken, dass allein im vergangenen Jahr sich vier Flüchtlinge umgebracht und 70 einen Suizidversuch unternommen hatten.
Bayern hat ausführlichere Daten – aber keine erfreulichen: Im vergangenen Jahr töteten sich 25 Flüchtlinge; 2916 waren es elf, 2015 sieben. Suizidversuche gehen in die Hunderte, auch sie steigen. Vergleichen ließen sich die Daten aber nicht, sagt der Sprecher des bayerischen Innenministeriums. Der Anstieg der Fälle hänge mit einer größeren Anzahl der Asylsuchenden zusammen. Bei den meisten Betroffenen handelt es sich um Afghanen, zeigt die Statistik.
In anderen Bundesländern dagegen gibt es keine Informationen dazu, Baden-Württemberg teilt zum Beispiel mit: „In der Polizeilichen Kriminalstatistik Baden-Württemberg werden Suizide und Suizidversuche nicht erfasst. Daten zu Suiziden oder Suizidversuchen unter Flüchtlingen erheben wir nicht.“
Für das gesamte Bundesgebiet kann das Bundesinnenministerium nicht zur Aufklärung beitragen. Nach mehrfachem Nachfragen heißt es: „Jeder einzelne Suizid oder Suizidversuch ist tragisch. Diesem Thema muss mit einer angemessenen Suizidprävention begegnet werden, was eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Es wird aber nicht für sinnvoll oder zielführend erachtet, eine gesonderte Erfassung und Aufschlüsselung von Suizidfällen nach der Frage der Flüchtlingseigenschaft (oder allgemein nach der Frage der Herkunft, Ethnie, Religion etc.) vorzunehmen.“ Warum es nicht sinnvoll ist, die Daten zu erheben – auf diese gestellte Frage geht das Innenministerium nicht ein.
Andere halten das Thema aber für so relevant, dass sie die Daten schon seit 25 Jahren sammeln. Der Berliner Verein Antirassistische Initiative legt in Kürze seinen 25. Bericht zur Gewalt gegen Geflüchtete und auch zu Suiziden und Suizidversuchen vor. In der Dokumentation heißt es, dass es in den Jahren 2015–2017 unter Flüchtlingen insgesamt 71 Suizide gegeben habe, darunter neun Fälle in Abschiebehaft. Bei Suizidversuchen hat der Verein Kenntnis von 2528 Fällen. In der Dokumentation wird jeder einzelne Fall aufgelistet, online sind sie auf einer Deutschlandkarte verzeichnet: http://www.ari-dok.org
Das extremste Mittel für verzweifelte Menschen
„Wir dokumentieren das, weil es häufig passiert, und weil es ganz klar politische und gesellschaftliche Ursachen dafür gibt“, erklärte eine Sprecherin des Dokumentationsprojektes. Die Selbsttötung sei schließlich das extremste Mittel eines verzweifelten Menschen.
Es ist zu befürchten, dass die Dokumentationsarbeit noch lange nicht abgeschlossen sein wird.
Psychotherapeuten, die mit Flüchtlingen zusammenarbeiten, warnen, dass die vom Innenminister Horst Seehofer (CSU) geplanten Flüchtlingslager – „Ankerzentren“ – die psychischen Probleme vieler Geflüchteter verstärken würden. In Bayern werden solche Massenunterkünfte schon seit etwa zwei Jahren forciert. Doch die Zentren belasteten nicht nur die Flüchtlinge, sondern wirkten auch als Angstverstärker auf die deutsche Gesellschaft, mahnt Silvia Schriefers von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (siehe Interview auf dieser Seite).
In der Bundesregierung kommt zumindest bei der SPD etwas Bewegung bei diesem Thema auf. Burkhard Lischka und Lars Castelluci, zuständig für Flüchtlingspolitik, wollen das Datenloch schließen: Für psychische Prävention „ist es sicherlich auch hilfreich, umfangreich statistische Gesundheitsdaten zu erheben. Dass dies bislang bei Suiziden und Suizidversuchen offenbar nur rudimentär und auf Länderebene geschieht, ist ein Missstand, der im Rahmen einer grundsätzlich zu verbessernden Datenerhebung bei Geflüchteten behoben werden sollte“, teilen beide Politiker auf Anfrage in einer gemeinsamen Erklärung mit.
Deutlicher wird da schon die Oppositionspolitikerin Ulla Jelpke (Linke): „Daten zu Suiziden von Geflüchteten müssen unbedingt bundesweit erfasst werden. Meine Vermutung ist, dass es sich nicht um wenige Einzelfälle handelt, sondern um ein systematisches Problem. Darauf deuten auch Recherchen unabhängiger Stellen hin und ich kenne auch aus meiner eigenen Praxis solche Fälle. Solange es aber keine validen Daten gibt, werden Bund und Länder die Ahnungslosen spielen und das Problem ignorieren.“