Legendärer Mordfall auf Island: Wer erschlug Snorri?
Das Mittelalter um die Ecke
Ein Mord, ein heißer Topf, ein etwas anderer Saga-Held: Islands Historie ist nur einen Steinwurf weit entfernt.
1. November 2017

Woher kamen die Mörder? „Völlig klar, sie sind von Norden aus an der Raudsgil-Schlucht runtergeritten“, sagt der Mann von „Promote Iceland“ über den Anschlag auf Snorri Sturluson. Mit aufgeregter Stimme, als sei es gestern passiert. Dabei zeigt er nach Süden und konsultiert dann doch vorsichtshalber sein Smartphone mit der Kompass-App. Jeder kann irren, aber jedenfalls von der Schlucht, ganz sicher: „Wie faszinierend! Der Blick hier von Reykholt quer über das Tal ist immer noch ganz genau derselbe wie damals, als es passierte.“ Dass der weite Blick unendlich schön ist, versteht sich für einen Isländer wohl von selbst.
Die 776 Jahre Abstand zum berühmtesten und mysteriösesten aller Mordfälle auf der Vulkaninsel mit den spektakulären Landschaften haben tatsächlich nichts geändert. Am 23. September 1241, so kann man in der „Isländer“-Saga nachlesen, erschlug ein gewisser Árni Beisk den mächtigsten Mann und berühmtesten Schriftsteller im ganzen Land in dessen Kellerversteck in Reykholt. Árni, genannt „der Erbitterte“, tötete als Erfüllungsgehilfe von Gissur Thorvaldsson, Schwiegersohn des Opfers und Konkurrent um die Macht. Gissur konnte sich auf einen Mordauftrag von Norwegens König Hákon berufen. Nur eine Schutzbehauptung? Jedenfalls rissen sich die Norweger ganz Island zwei Jahrzehnte später unter den Nagel, mit Gissur als Statthalter. Damals wie heute zählt hier vor allem der Vorname, denn der Nachname besteht aus dem väterlichen Vornamen, mit „-son“ für Sohn oder „-dóttir“ für Tochter als Endung.
Ein Hauch von Kennedy-Mord-Mysterie schwebt über dem Reykholttal, wenn hier das ferne Hochmittelalter nicht nur landschaftlich so nahe rückt. Für Pastor Geir Waage liegt es gleich um die Ecke. „Ganz klar, die Mörder kamen von Osten, Snorris Neffe hat es ja später in der Saga haargenau aufgeschrieben,“ widerspricht der Gottesmann dem Touristenwerber aus der Hauptstadt Reykjavik. Als Snorri über Westisland herrschte und nebenbei Weltliteratur mit seiner „Edda“ schrieb, war Reykholt praktisch Islands Hauptstadt, mit Festungsmauer und immer fließend heißem Wasser aus der Thermalquelle.
Seit 40 Jahren lebt der Pfarrer hier als einer von 47 Reykholt-Bürgern. Er geht sogar noch vor die Zeit Snorris zurück, wenn man ihn nach der besten Phase in seinem Land aus christlicher Sicht fragt: „Das war während der Christianisierung. Die Christen beteten zu ihrem Gott, und die Heiden durften weiter, etwas diskreter, Odin und andere anbeten. Ich bewundere die Vernunft unserer Vorväter.“ Mit großer Selbstverständlichkeit zieht Geir direkte Linien zum unglücklichsten aller Mordzeugen aus der Septembernacht 1241: Pastor Arnbjörn, von den Attentätern zum Verrat des Verstecks aufgefordert, erbat etwas zu gutgläubig als Gegenleistung eine Garantie für das Leben Snorris. „Ich bin Arnbjörns 54. oder 55. Nachfolger,“ sagt Geir und zieht eine neue Prise Schnupftabak aus seinem fein umgearbeiteten Widderhorn.
Er kann auch die ganz frühen Vorgänger beim Namen nennen und weiß haargenau, auf welche Höfe in der Umgebung sie kurz nach der Christianisierung zogen. Die Höfe, am alten Platz immer wieder neu gebaut, tragen immer noch die alten Namen. Pastor Geir Waage hat wie ein Löwe mit 950 Jahre alten Handschriften als Beweismittel gegen den Staat Island, „diese verfluchte Republik“, gekämpft. Mit Erfolg. Als wichtigste Einnahmequelle für seine winzige Gemeinde mit 200 Seelen nennt er wohlhabende Isländer, Engländer und andere Reiche, die einen Angeltag im gemeindeeigenen Lachsfluss Grímså mit umgerechnet 1200 Euro bezahlen.
Als Islands ältestes steinernes Bauwerk überhaupt geblieben ist in Reykholt das Fundament von Snorris „heitur pottur“, dem „heißen Topf“. So um die drei Meter Durchmesser und einen halben tief mit herrlichen 37 Grad Dauertemperatur. Der Regional- und Dichterfürst wärmte hier die Gelenke und lud auch mal zum politischen Palaver in den Topf. Jetzt pilgern jedes Jahr rund 200 000 Touristen vorbei und können sich die Münzwerferei nicht verkneifen.
Hundert Meter weiter haben Óskar Gudmundsson und Kristin Òlafsdóttir ihren privaten Hot Pot hinter dem Haus. Die auch ins Deutsche übersetzte Biografie „Snorri Sturluson – Homer des Nordens“ hat Óskar hier in „Snorrastofa“ – „Snorris Stube“ – geschrieben, dem vor zwei Jahrzehnten nebst einer verblüffend großen Kirche gebauten Bildungs- und Forschungszentrum zu Ehren des Dichters. Unter dem Schrägdach der Bibliothek brüten Wissenschaftler über alten isländischen Manuskripten mit den Sagatexten. Gerade war Professor Francois-Xavier Dillmann aus Versailles wieder Sommergast und hat an seiner Übersetzung des zweiten Teils von Snorris monumentaler „Heimskringla“ gefeilt, einer Sammlung von drei Königssagas.
Will der Altnordist von der Sorbonne einen Schauplatz mal unter die Lupe nehmen, sollte es in der Regel kein Problem sein: „Snorri nennt in seiner Egilsaga einen Sumpf namens Krumskelda als Mordplatz. Der liegt zwischen Borgarnes und Stafholt und ist in der Gegend wohlbekannt. Es sieht dort heute wohl exakt aus wie vor 800 Jahren beschrieben.“ Auch bei den Inhalten seien die Isländer ihren Mittelalterquellen sehr nahe. Dillmann erzählt fasziniert, dass die vom Autor Snorri in „Heimskringla“ niedergeschriebene Rede eines isländischen Regionalhäuptlings im 19. Jahrhundert für den isländischen Kampf um Unabhängigkeit von Dänemark neu genutzt wurde. Im Kalten Krieg hundert Jahre später recycelten dann die Protestler gegen die ungewünschte US-Militärbasis in Keflavik die Rede wieder.
Dass Isländer zu ihrer Mittelaltergeschichte ein ganz anderes Verhältnis haben als etwa Franzosen, sei zuerst mit der Sprache zu erklären, die sich über tausend Jahre kaum verändert hat: „Alle können bis auf wenige Wörter die Sagas lesen.“ Bei vielen Schwimmtouren im ganzjährig 28 Grad warmen Pool im Nachbarort Kleppjárnsreykir hat sich der Professor anschließend auch gern in den „heitur pottur“, gesetzt: „Da wurde ich Zeuge, wie Isländer sich über die Saga-Helden Gedanken machten und über bestimmte Episoden unterhielten.“
Islands Präsident Gudni Jóhannesson ist für seine Landsleute ein Jahr nach seiner Wahl sehr schnell ein moderner und ziemlich alternativer Saga-Held geworden. Gerade haben ihm 97 Prozent per Umfrage tolle Amtsführung bescheinigt. Selbst meint er im Reykjaviker Büro: „Naja, meine Kandidatur für dieses Amt ist schon eine Saga.“ Im nächsten Satz redet er, milde lächelnd, gegen die Romantisierung der Sagas an: „Sie drehen sich sehr um das eine Prozent, dem es gut ging, und 99 Prozent waren unterworfen.“ Das eine Prozent waren Oligarchen, die als Regionalhäuptlinge („Goden“) Island im Mittelalter unter sich aufgeteilt hatten. Mal per Absprache, aber immer gern auch mittels Mord und Brandschatzung, in der Regel schnell gefolgt von einem Rachefeldzug.
800 Jahre später, sagt der Präsident, sei sein Land auch wieder „reichlich mit Testosteron gefüllt gewesen“, als Island durch größenwahnsinnige Schuldenabenteuer gieriger Spekulanten 2008 vor dem Staatsbankrott stand. Unter den mehr als 30 hinterher zu Haftstrafen verurteilten Bankern und anderen Geschäftsleuten war eine Frau. Als Historiker hat Gudni im Fernsehen immer wieder fachkundig, seriös sowie sympathisch Filz und Korruption unter Islands oligarchischen Machtzirkeln unserer Tage auseinandergepflückt. Letzten Sommer wählte die stimmberechtigte Mehrheit der 330 000 Isländer den parteilosen Außenseiter zu ihrem Präsidenten. Der erzählt, dass er vorher lange geschwankt habe, ob er tatsächlich antreten und sich damit gewichtigeren Zwängen als dem zum Schlips unterwerfen wollte.
Zum Grübeln quartierte sich Gudni ein paar Tage bei „Snorrastofa“ in Reykholt ein: „Ein wunderbarer Rückzugsort.“ Dazu einer ohne Krawattenzwang. „Er lief in den Tagen bei uns immer im Trikot von Islands Handballern herum“, erzählt Snorrastofa-Chef Bergur Žorgeirsson. Nach kurzer Schilderung der präsidentiellen Sportbegeisterung, aktiv und als Fan, gibt sich Bergur umstandslos einem weiteren isländischen Nationalsport hin. Alle kennen in diesem kleinen Land alle, gehören am Ende derselben Familie an und erzählen gern davon: „Der Bruder unseres Präsidenten ist ja Handballnationaltrainer in Österreich, wusstest du das nicht?“ Bergur selbst hat seine Ausbildung als Fußballtrainer beim Vater des Staatsoberhauptes durchlaufen: „Wir sind dabei gute Freunde geworden.“
Verwandt sind sie ja sowieso alle. Es fragt sich nur, mit welchem Generationsabstand. Ohne jeden Zweifel auch stammt der Präsident vom 800 Jahre älteren Snorri ab. „Wir können auf dem Laptop nachgucken, in welcher Generation“, reagiert er hilfsbereit auf die Frage und springt gleich auf. Isländer können ihre kompletten Stammbäume über tausend Jahre problemlos auf „islendingabok.is“ online zusammenbauen. Auswendig schafft Gudni es nur bis zu den Urgroßeltern und wirkt selbst auch nicht so elektrisiert. Oskar, der Biograf, ist von anderem Kaliber und weiß sofort: „Ich bin Snorri-Abkömmling der 22. Generation.“
In seinem spannenden Buch über den vielleicht „heiligsten“ aller Isländer zeigt eine Grafik mit vielen Pfeilen den Weg von Gissur Thorvaldsson und den 70 Helfern zum legendären Mordanschlag in Reykholt. Sie kamen aus verschiedenen Richtungen. So sollte wohl alles klar sein. Das mit den 70 Mann steht auch in der ebenfalls lesenswerten „Geschichte Islands“ aus der Feder des Historikers Gudni. Weiter unten heißt es dann: „Die Schilderung des Mordes in der ‚Isländer‘-Saga fällt zwar detailliert aus, kann aber nicht ohne Weiteres als wahr angesehen werden. Sie ist eine deutliche Mahnung, nicht allen Schilderungen aus jener Zeit zu glauben. Wir wissen mit Sicherheit, dass Snorri um die angegebene Zeit gestorben ist. Aber nicht wie.“
Hier widerspricht der Biograf seinem Präsidenten: „Das sehe ich anders. In diesem Fall hat der Neffe den Mord beschrieben. Er stand seinem Onkel Snorri äußerst kritisch gegenüber, und ich sehe keinen Grund zur Skepsis gegenüber dieser Darstellung.“ Verwandt, wie gesagt, sind sie ja alle in Island, manche direkt, andere erst in 21. Generation. Aber auch Verwandte müssen sich ja nicht immer in allem einig sein.