Wie dänische Bibliotheken sich runderneuern

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Dänische Bibliotheken erfinden sich gerade neu: Bücher sind nur noch Nebensache. Vom Chorgesang bis zum Behördengang und mit Obdach für Einsame bieten sie dem Niedergang die Stirn.

8. Juli 2017
Bibliothek

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Es gibt selbst an der Decke viel zu entdecken. Foto: Aarhus Public Libraries

Linn Ullmanns Roman über ihre Kindheit mit weltberühmten und überforderten Eltern erwies sich als unwiderstehliche Lektüre. Groß also das Entsetzen, als am späten Kopenhagener Samstagnachmittag klar wurde, dass ich „De urolige“ (auf Deutsch kommen „Die Unruhigen“ erst nächstes Jahr raus) auf der Insel Falster vergessen hatte. Nach dem Schock brachte die Internetseite der Stadtbücherei erst mal wenig Hoffnung: Fehlanzeige als E-Buch, 143 Papierexemplare ausgeliehen. Zu viele Dänen wollten lesen, wie die norwegische Autorin ihre Kinderjahre zwischen dem egomanischen Filmgenie Ingmar Bergman und der mit ihrer Schönheit als Einnahmequelle hart ringenden Schauspielerin Liv Ullmann auferstehen lässt. Ein Meisterwerk.

Das musste ich ohne Verzögerung zu Ende lesen. Und siehe da: Die „Folkebibliotek“ in Christianshavn hatte eins als „hjem“, „zuhause“, auf der digitalen Liste. Also im hohen Gang zum Nachbarstadtteil geradelt. Zwar ist die Bücherei auch dort samstags um 18.15 Uhr verschlossen. Aber ich kann den Eingang mit meiner dänischen Sozialversicherungskarte am Scanner öffnen. Drinnen kein Personal, dafür eine Handvoll Besucher vor ihrem Laptop oder einem Bücherei-PC. Sie haben hier freien Internetzugang, Stille und um sich Bücher. Ich finde „De urolige“ und freue mich auf einen schönen Leseabend.

Öffnungszeiten von 7 bis 22 Uhr, in den Randzeiten und am Wochenende ganz ohne Personal, gehören zu den revolutionären Umwälzungen von Dänemarks international bewunderter Bibliothekstradition. Die Zeit war wohl reif mit den seit 2009 um ein Drittel, seit 1989 um 80 Prozent gesunkenen Ausleihzahlen. Wenn es so weitergeht, sagen die Skeptiker, holt in 10 bis 15 Jahren niemand mehr ein Buch aus dem Büchereiregal. Obwohl mehr gelesen wird. Man kann sich ja alles gratis oder fast umsonst im Netz schnappen.

„Wir erfinden uns völlig neu. Die Zahl der Bücher ist dabei irrelevant“, sagt Verwaltungschef Rolf Hapel beim Rundgang durch „Dokk1“ in Aarhus. Dänemarks zweitgrößte Stadt mit 300 000 Einwohnern, hat sich zur Reise in die Bibliothekszukunft für 400 Millionen Euro eine Art Raumschiff spendiert, direkt am Hafen und rundum verglast. Architektur-Nerds spotten, der Bau in Europas Kulturhauptstadt 2017 sehe eher aus wie ein Flughafenterminal in Zentralasien. Im Dokk1 sind Bücher nur noch eins von unendlich vielen Angeboten einer kommunalen Erlebnis-, Begegnungs- und Dienstleistungsstätte. Hier spielen junge Eltern oder Großeltern mit Kindern zwischen Regalen, nebenan probt ein Chor, der „3D-Printerklub“ trifft sich zum Ideentausch, und im „Mathematikcafé“ warten Fachkundige auf intelligente oder weniger intelligente Publikumsfragen. Vereinigungen aller Art können einfach und kostenfrei einen Raum bestellen.

So kommt es, dass Dänen bei sinkendem Interesse an der Buchleihe immer häufiger in ihren Bibliotheken aufkreuzen. Jede Woche am Mittwoch morgen um halb neun singen in der Kopenhagener Hauptbücherei mehr als hundert „Nutzer“ für eine halbe Stunde vor der Arbeit gemeinsam beim „morgensang“. Als bekannt wurde, dass Brian Eno, berühmter Komponist und ganz früher Rockmusiker bei Roxy Music, mal mitsingen wollte, kamen 600. „Dokk1“ hatte im ersten Jahr nach der Eröffnung 1,7 Millionen Besucher, Tendenz steigend. Die Besucherzahl, für Verwaltungschef Hapel von einer App seines Smartphones in jeder Sekunde exakt abrufbar, hat die Buchausleihe als Erfolgskriterium abgelöst.

Im Provinzstädtchen Nykøbing auf Falster lässt sich ihre Steigerung mit bloßem Auge ausmachen. Zweimal die Woche tragen dazu überwiegend grau- und weißhaarigen Freiwillige und meist schwarzhaarige Flüchtlinge im „Lektiecafé“ bei. Sie üben gemeinsam Dänisch. Vom verglasten Raum mit der angenehm ruhigen Arbeitsatmosphäre aus sehen sie ein munteres Treiben in den luftiger gewordenen Freiräumen zwischen viel weniger und niedrigeren Bücherregalen. Auch Nykøbing hat, wie alle Büchereien im Königreich, kräftig Bücher „entsorgt“, aber nicht so brutal wie in Kopenhagen: Raus mit jedem Buch, das mehr als zwei Jahre niemand entliehen hatte.

Zum neuen Treiben gehört in Aarhus, Nykøbing und Kopenhagen der „Bürgerservice“: Probleme mit dem Kindergartenplatz, die Passerneuerung und die Baugenehmigung für den neuen Schuppen – im Prinzip alles Bürokratische aus dem Normalalltag soll im Gespräch mit Mitarbeitern erledigt werden können. Eine wunderbarer Rationalisierungsschritt für die Kommune, verhasst bei den Verteidigern klassischer Bücherei- und Bildungsideale und gefürchtet von Bibliothekaren: Wann wird ihre Arbeit mit der im Bürgerservice komplett vermischt sein? Sie möchten vermutlich lieber Wissen um Bücher vermitteln als Pässe verlängern.

In Nykøbing hat ihre Chefin, eine Juristin, nie zuvor in einer Bibliothek gearbeitet. Charlotte Møller schwärmt unbekümmert von der Zukunft der ehemaligen Volksbücherei als „Kulturerlebniszentrum“, „Stadthaus“ oder auch „Gesellschaftshaus“. Sie sieht es auch als künftige Infozentrale für die Touristen auf Falster und plant den natürlich kostenlose Verleih von Fahrrädern an Pendler: „Das bekommen wir genauso hin wie die Ausleihe von Büchern.“

„Wann werden sie Häkelkurse anbieten?“ höhnt Ole Münster, der aus Wut über die nach seiner Meinung ziellose Beliebigkeit dieser neuen Angebote eine 90 Seiten lange Streitschrift im Netz ausgelegt hat. „Bibliotheken in der Krise“ heißt sie und schildert diesen mit 3,5 Milliarden Kronen (fast 500 Millionen Euro) hoch subventionierten Teil der Kultur im kleinen Dänemark als „Kaiser ohne Kleider“: „Es gibt absolut keine Strategie mit einer zusammenhängenden Vision.“ Ein traditionelles Schwergewicht versuche einfach, sich mit allerlei Tricks und Gaukeleien vor dem Untergang zu retten. „In unseren Bibliotheken verbrennen sie jetzt Bücher“, donnerte Jes Stein Pedersen, Kulturchef von „Politiken“, als in Kopenhagen ein Drittel des Bestandes verschwand. Aus Verzweiflung über die Entwertung des Buches hat der Verband dänischer Belletristikautoren einen Preis für die „Buchsammlung des Jahres“ ausgesetzt: „Für eine hochklassig bestückte und zugängliche Bibliothek, die nicht alles daran setzt, so viele Bücher wie möglich loszuwerden.“

Auch in der Filiale meines Stadtteils Amager haben viele Regale Platz machen müssen für den „Bürgerservice“. Dass das altgedienten Nutzern wehtut, versteht Bibliothekschefin Kirsten Fjeldsted Præstegaard gut: „Wenn du Behördenarbeit in eine Bücherei bekommst, ändert sich wirklich etwas.“ Streit um den gekürzten Mietzuschuss bringen ebene eine andere Stimmung als die Frage nach geeigneter Lektüre für die Island-Reise. Um 16 Uhr schließt der Bürgerservice, längst aber nicht die Bibliothek. Wenn ich abends Bücher abgebe oder vorbestellte hole, sitzen hier immer Laptop-Nutzer und Leser an den überall installierten Arbeitstischen. Sie surfen im kostenlosen Internet, streamen Filme, etliche arbeiten konzentriert. Hin und wieder skypet jemand in einer exotischen Sprache. Es liegen auch Einsamkeit und andere Not in der Luft. Wohnungsnot zum Beispiel, weil man zu Hause weder Platz noch Ruhe zur Arbeit am Computer hat oder die Uni chronisch überfüllt ist. Vandalismus in der Bücherei selbst gebe es bei Videoüberwachung so gut wie gar nicht, berichtet die Leiterin. In angrenzenden, ebenfalls offenen Räumen des „Quartierhauses“ habe man schon Probleme: „Es kommen eben auch Obdachlose, die hier schlafen wollen oder das Handy aufladen.“ Seit neuestem gibt es einen Wachdienst.

Auch im „Dokk1“, dem Flaggschiff der neuen dänischen Bibliothekswelt, kann jeder unbeaufsichtigt bis 22 Uhr Bücher vor Ort lesen oder mit nachhause nehmen. „Das erfordert ein recht hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen in einer Gesellschaft,“ sagt Bibliothekschef Hapel. Ausländische Besucher seien schon skeptisch, ob das funktioniere. Er führt nicht selten auch deutsche Bibliothekare durch die lichten Hallen. Die kommen immer schon ein bisschen neidisch nach Dänemark, weil ihren Kollegen hier 50 Euro pro Bürger aus der Steuerkasse zur Verfügung stehen. Zuhause sind es gerade mal 10 bis 20. Aber die allergrößte Verwunderung, so der Hausherr, gelte vor allem der Tatsache, dass in dieser Bibliothek der Zukunft Bücher so wenig ins Auge fallen. Dass Nutzer mit hohen Ansprüchen wie ich trotzdem immer noch das Gewünschte ziemlich schnell bekommen, hatten wir ja schon.

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