Reaktionen auf Köln:
Köln kann überall passieren
Von Stefan Brändle, Thomas Borchert und Sebastian Borger
Schweden
„Natürlich könnte Köln auch in Stockholm passieren“, sagt Schwedens führender Kriminologe Jerzy Sanecki. Auf die Frage nach der für ihn entscheidenden Ursache für das Ausmaß der sexuellen Übergriffe antwortet er: „Die Polizei war offenbar schlecht vorbereitet und nicht präsent. Da hat ein männlicher Mob die Macht über die Straße ergriffen. Wenn das mit Frauen in der Nähe geschieht, ist leider meistens sexuelle Gewalt dabei.“
Als Besonderheit sieht Sanecki eine in Schweden „außerordentlich stark entwickelte Sensibilität“ bei Gewalt gegen Frauen: „Der Aufschrei hier wäre noch viel stärker als jetzt in Deutschland. Er würde sich vor allem gegen die Passivität der Behörden richten.“ Zu spüren bekam diese Gemengelage auch der australische Wikileaks-Aktivist Julian Assange. Die schwedische Staatsanwaltschaft hat ihn nach der Anzeige zweier Schwedinnen wegen sexueller Nötigung drei Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London schmoren lassen, nur um ein Verhör in Göteborg zu erzwingen.
So gut wie alle Politiker im Stockholmer Reichstag einschließlich der männlichen stufen sich selbst als feministisch ein. Das hat auch zum schärfsten Sexualstrafrecht in der EU geführt. Umso mehr verblüfft die Statistik mit einem drastischen Anstieg der Sexualdelikte. Gudrun Schyman, Chefin der Partei Feministische Initiative, zitiert eine Studie der WHO, wonach im EU-Durchschnitt 55 Prozent der Frauen angaben, sie seien nach ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal sexuell belästigt worden.
Dass die Quote in Schweden mit 81 Prozent drastisch höher liegt, wecke natürlich Fragen: „Ein Teil der Erklärung liegt wohl darin, dass die Teilerfolge des Feminismus ein klareres Bewusstsein erzeugt haben.“ Frauen zeigen entschlossener an. Für die in Umfragen nach vorne stürmenden Rechtspopulisten der Schwedendemokraten liegt die Erklärung ganz und gar in der Zuwanderung.
Der Kriminologe Sanecki erkennt an, dass das „ethnische Element“ die Debatte um Ereignisse wie in Köln „richtig explodieren lässt“. Er will nur selbst nicht dazu beitragen. Was er über Köln gelesen habe, sei für ihn einfach der „überall und immer wieder vorkommende Fall, dass junge Männer aus der armen Unterklasse sich bei bestimmten Gelegenheiten zusammenrotten und die Straße erobern.“ Das gebe es in „Problemvororten“, bei Fußball-Hooligans und jetzt eben bei einer nächtlichen Massenfeier.
Gut ein Jahrzehnt später zeigten sich die ersten Erfolge: Laut einer Erhebung des Nationalen Institutes für demographische Studien im Jahre 2010 waren zehn Prozent der neu Ausgebildeten ausländischer Herkunft. Die Zeitung „Le Figaro“ resümierte die Studie damals mit den Worten: „Die Polizei gleicht nun Frankreich.“
Die meisten dunkelfarbigen Vertreter der französischen Polizei sind allerdings nicht ausländischer Herkunft. Sie stammen aus den französischen Überseegebieten Guadeloupe, Martinique und Guyana. Sie machten allein neun Prozent der Polizei aus, gefolgt von 3,7 Prozent Nord- und Schwarzafrikanern.
Seit 2010 dürfte sich dieser Anteil weiter erhöht haben. Doch die fremdländischen Polizisten haben es nicht leicht: Die meisten werden als so genannte ADS („Adjoints de sécurité“, das heißt Hilfskräfte) eingestellt und erhalten vorerst keinen Beamtenstatus. Ihre internen Aufstiegschancen bleiben gering; der Soziologe Jérémie Gauthier unterstellt der – vorwiegend weißen und männlichen – Hierarchie sogar „rassische Vorurteile“.
Die ADS kommen vor allem in Problemzonen der Vorstädte zum Einsatz, was einerseits Sinn macht, aber auch als berufliches Abstellgleis gilt. Und als gefährlich. In diesen Einwandererghettos stoßen gerade die dunkelhäutigen Ordnungshüter zudem oft auf starke Widerstände: Vor allem, wenn sie muslimischen Glaubens sind, werden sie von den Banlieue-Kids als „Verräter“ beschimpft. Die älteren Bewohner begrüßen die Präsenz anderer als weißer Polizisten ausdrücklich. Auch die übrigen Franzosen stehen der seit bald zwei Jahrzehnten geförderten Entwicklung positiv gegenüber.
Auch diesbezüglich gibt es aber Ausnahmen: Dunkelhäutige Polizisten beschweren sich statistisch gesehen häufiger als andere über aggressive Gegenüber. Die drei Polizisten, die bei den Anschlägen von Januar 2015 in Paris getötet wurden, stammen allesamt aus der Karibik oder dem Ausland.
GroßbritannienMal zu zögerlich, mal zu forsch – wie in jeder Demokratie wandeln auch in Großbritannien die Polizeibehörden auf einem schmalen Grat. Das gilt besonders dann, wenn es um Straftaten geht, die entweder von oder an Angehörigen ethnischer Minderheiten begangen werden. So sieht sich Londons Scotland Yard gerade dem schweren Vorwurf ausgesetzt, man habe das vor Weihnachten gemeldete Verschwinden einer schwarzen Schauspielerin und ihrer zwei Kinder nicht recht ernst genommen. Zu Wochenbeginn wurden die Leichen von Sian Blake, 43, und den beiden Söhnen im Garten des eigenen Hauses entdeckt. Blakes Lebensgefährte ist flüchtig.
Die verschleppten Ermittlungen im Fall des schwarzen Teenagers Stephen Lawrence, den 1993 weiße Rechtsextreme ermordet hatten, führte 1999 zu einem schweren Vorwurf: Die Londoner Polizei sei „als Institution rassistisch“, so das Urteil einer unabhängigen Kommission. Seither ist der Anteil von Beamten mit Migrationshintergrund von 3,4 auf zehn Prozent gestiegen, unter neuen Rekruten machen dunkelhäutige Beamte 16 Prozent aus.
Hingegen liegt der Anteil ethnischer Minderheiten in der Bevölkerung der 8,2-Millionen-Stadt bei rund 40 Prozent. Die Rekruteure von Scotland Yard haben es dem Vernehmen nach gerade in Stadtteilen mit hohem Anteil von Einwanderern aus Pakistan und Bangladesch schwer: Dort gelten Polizisten als Verräter oder als ähnlich korrupt wie in den Heimatgesellschaften.
Mit dem Rassismus-Vorwurf gegen die Polizei sind die häufig selbsternannten Sprecher ethnischer Gruppen schnell bei der Hand. Umgekehrt hat die britische Gesellschaft in den vergangenen Jahren erschüttert zur Kenntnis nehmen müssen: Aus Angst vor solchen Vorwürfen ließen britische Polizei und Sozialbehörden jahrelang Massenvergewaltigungen ungeahndet.
Unabhängige Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis: „Nach konservativer Schätzung“ wurden in der 240 000-Einwohner-Stadt Rotherham im nordenglischen Yorkshire zwischen 1997 und 2013 mindestens 1400 Minderjährige missbraucht, „von mehreren Tätern vergewaltigt, in anderen Städten herumgereicht, entführt, geschlagen und eingeschüchtert“.
Fast immer waren die Täter erwachsene Briten pakistanischer Herkunft, ihre minderjährigen Opfer weiße Mädchen, die in prekären Verhältnissen oder in Jugendheimen lebten. „In vielen Fällen wurden Beweise unterdrückt oder ignoriert“, hieß es in einem Bericht; ein anderer konstatierte, in der Stadt würden die Vorwürfe „wegen deplatzierter politischer Korrektheit“ auch weiterhin verneint oder heruntergespielt. Ähnliche Fälle gab es auch in Derby, Oxford und Rochdale bei Manchester.