Für Tom Cruise scheint nichts unmöglich: Er dreht die Fortsetzung seiner legendären Actionfilmreihe derzeit in Norwegen – trotz Corona-Restriktionen und politischem Gegenwind aus mehreren Richtungen.
Home Office ist für Actionhelden wie Ethan Hunt keine Option. Und so donnert, hechtet und hüpft sein Darsteller Tom Cruise für „Mission: Impossible 7“ trotz auch in Norwegen steigender Covid-Infektionszahlen durch eine atemberaubende Fjord- und Berglandschaft. Einen Monat lang dreht der 58-Jährige am westlichen Ende Skandinaviens die spektakulären Stunts für sein Kino-Epos und entzückt ganze Heerscharen von ortsansässigen Hobbyfilmerinnen und Hobbyfilmern.
Sie setzen aus der sicheren Ferne ihre Smartphones in Gang, wenn Cruise mit seinem Motorrad auf eine gigantische, eigens für den Film zusammengeschraubte Bergrampe rast, vom nackten Steilfels Helsetkopen 1246 Meter in die Tiefe stürzt und mit dem Fallschirm sicher auf eine saftig grüne Wiese schwebt.
Die große Begeisterung über den trotz näher rückenden Rentenalters offenbar topfitten und mit Corona-Maske geduldig für Selfies zur Verfügung stehenden Hollywoodstars teilen aber nicht alle. Normalbürgerinnen und -bürger in West-Norwegens Großstadt Bergen bekommen gerade wegen kräftig steigender Infektionszahlen neue schmerzhafte Restriktionen verordnet.
Versammlungen mit mehr als zehn Personen etwa sind wieder verboten und allen Norwegerinnen und Norwegern wird von Reisen ohne triftigen Grund in die zweitgrößte Stadt ihres Landes abgeraten. Aber Bergen ist nicht Hollywood und Tom Cruise eben ein steinreicher Weltstar.
Als er im Sommer wohl wegen der strengen Einreisebeschränkungen verbreiten ließ, er wünsche direkten Kontakt zu Ministerpräsidentin Erna Solberg, war ihm Kulturminister Abid Raja zu Diensten: „Ich stehe jederzeit bereit.“ Raja verbreitete das folgende Kurz-Telefonat selbst als Video: „Wer ist da? Tom Cruise? Oh mein Gott.“ Er hoffe so sehr, dass seine Regierung „diese Corona-Situation für die Filmcrew lösen kann. Und natürlich für andere.“
Auch habe er selbst schon mal in so einer Felswand gehangen wie Cruise in „Mission: Impossible 6“. Oslo hat indes unter anderem grünes Licht für die Unterbringung der 200 Personen starken Crew auf dem Kreuzfahrtschiff „Fritjof Nansen“ der Reederei Hurtigruten gegeben.
Cruise, auch als Produzent an „Mission: Impossible“ beteiligt, soll dafür laut der britischen „Sun“ aus eigener Tasche 700 000 Dollar hingeblättert haben, um noch teurere Verzögerungen im Drehplan zu umschiffen. Hurtigruten dürfte ihm einen guten Preis gemacht haben, denn das Geschäft liegt infolge der Pandemie still. Die Kreuzfahrtreederei machte erst vor einem Monat Schlagzeilen, als auf der „Roald Amundsen“ 41 Crewmitglieder und 21 Gäste in Tromsø positiv auf das Virus getestet wurden.
Gleich mehrere norwegische Gewerkschaften allerdings stört an diesem Deal zwischen Cruise und Hurtigruten ein ganz anderes Problem. Sie erstatteten kurz vor Beginn der Dreharbeiten in Norwegen Anzeige, weil die Schiffsbesatzung fast ausschließlich aus Filipinos besteht, die laut den Gewerkschaftsinformationen für einen Bruchteil des norwegischen Mindestlohnes arbeiten und für einen längeren Betrieb als Hotelschiff überhaupt keine Arbeits- oder Aufenthaltsgenehmigungen haben sollen.
Norwegens Wirtschaftsministerin Iselin Nybø musste zugeben, dass man da wohl nicht genau genug hingeschaut habe. Die Reederei Hurtigruten beeilte sich mit der Versicherung, dass „natürlich“ norwegische Löhne ausgezahlt würden. Tom Cruise kann derweil weiter seine Stunts ausführen, während in Oslo innenpolitisch gestritten wird. Oppositionssprecher Terje Aaslund von der Arbeiterpartei bringt es halb englisch auf den Punkt: „Es scheint als, sei unsere Regierung starstruck.“
Amber erzählt ihrem Adam von abrupt beendeten Mahlzeiten mit dem Stiefvater und „wie scheißjämmerlich dieser Typ ist“: „Er merkt immer noch nicht, dass das Publikum nach Hause gegangen ist, während er einfach immer weiterlabert.“
Der Zuhörer, 17 Jahre alt und wortgewandter Sieger bei Debattierwettbewerben, zürnt der Freundin, weil sie mitten in einer Bootspartie plötzlich laut- und spurlos verschwunden ist. „Adam sollte zwanzig Jahre brauchen, um die Analogie zwischen diesen beiden heimlichen Fluchten, der aus dem Esszimmer und der von dem Boot, zu begreifen.“
Diese zwei Jahrzehnte umspannt Ben Lerners Autofiktion-Roman „Die Topeka Schule“. Der Autor, 1979 im kleinen Topeka/Kansas geboren, als Gymnasiast US-Meister im Debattieren und jetzt ein Lieblingsautor von Barack Obama, zieht im Schlusskapitel als Ich-Erzähler mit seinen zwei Töchtern wortreich sowie höflich gegen einen „schlechten Vater“ zu Felde, der seinen Sohn andere Kinder terrorisieren lässt. Auch hier begreift er nur mit Verzögerung: „Erst als ich es auf den Asphalt klappern hörte, wurde mir voll bewusst, dass ich ihm das Telefon aus der Hand geschlagen hatte.“
Mit wechselnden Stimmen erzählt Lerner von der Grenze sprachlicher Verständigung in Adams Jugendjahren, als Bill Clinton 1997 zum zweiten Mal Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Adams Eltern Jonathan und Jane kommen im Wechsel mit dem Sohn zu Wort. Beide sind als Psychiater mit ihren 68er-Ideen im Gepäck aus New York in die Provinz des Mittleren Westens gezogen, hier bestens etabliert und im Fall der Mutter mit einem feministischen Bestseller auch zu Ruhm und einer Menge mehr Geld als der Ehemann gelangt. Wie im wirklichen Leben die Mutter Harriet Lerner.
Der Vater behandelt vorzugsweise „lost boys“, gestörte Jungen aus kaputten Familie ohne Geld und Bildung, darunter auch den mit Adam gleichaltrigen Darren, der vierten und so ganz anderen Hauptperson in eigenen Kapiteln. Die netten 68er-Eltern mit Geld und Bildung, zur Glanzzeit Clintons in den USA Teil der Trendsetter, sehen es gern, dass Adam und seine Mitteklasse-Clique Darren ins sozial so hübsch aussehende Schlepptau nehmen. Aber das wird nicht gut gehen, in entscheidenden Augenblicken zeigen sich Klassenschranken genauso erbarmungslos wie das Gefälle zwischen den Wortmächtigen und denen ohne jede Macht. Heute wäre dieser Darren mit seinen gut 40 Jahren, das ist klar, Trump-Wähler.
So wie Adams Coach bei den Debattier-Meisterschaften, angeheuert als politisch nicht ernstzunehmender, aber brillanter Rastelli für die immer unschlagbare Redestrategie, egal um was es geht, zehn Jahre später „zum Schlüsselarchitekten der rechtesten Regierung wird, die Kansas je erlebt hat“. Was kann wohl schiefgegangen sein, als in die USA die linksliberale Mittelschicht mit Clinton an der Spitze eigentlich dachte, sie habe endgültig gewonnen?
In seine, wie es nun mal zugeht bei den Autofiktionalen von Karl Ove Knausgaard bis Rachel Cusk, narzisstische Ausbreitung der eigenen Geschichte bringt Lerner unangestrengt und eindringlich zugleich diese politische Dimension. Sie ist ausgeprägt US-amerikanisch, etwa mit den hierzulande wenig verbreiteten Debatten-Meisterschaften, bei denen der Inhalt beliebig austauschbar und der Sieg über andere alles entscheidend ist. Andererseits versteht man Talkshows und Wahlkampfdebatten im Fernsehen wohl auch diesseits des Atlantik längst so. Lerner konstruiert mitunter etwas zu offensichtlich, etwa wenn es um den hochexplosiven Sexualneid des „Unterschicht“-Kids Darren geht, der bei den begehrten Mittel- und Oberklassemädels dann doch nicht landen kann. Andererseits ist es Darrens Geschichte, die dem Buch Drive und Spannung verschafft.
„Die Topeka-Schule“ ist mit dieser Personengalerie randvoll spannender und origineller Blicke sowohl als individuelle Coming-of-Age-Geschichte wie auch als Zeit- und Gesellschaftsbild. Vor Obama hat Lerner jenseits des Atlantik auch den nimmermüden Alexander Kluge als erklärten Fan gewonnen. Der inzwischen 88-Jährige war von Gedichten dieses fast ein halbes Jahrhundert jüngeren Autoren so begeistert, dass er dazu Essays schrieb und mit Lerner das Gemeinschaftswerk, „Schnee über Venedig“ (2018, Spector Books) herausgebracht hat.
Im eigenen Land machte sich der in New York als Literaturprofessor auch akademisch etablierte Autor schon mit seinen ersten beiden, ebenfalls autofiktionalen Romanen „Abschied von Atocha“ und „22:04“ einen Namen. Mit der „Topeka-Schule“ hat er es unter die letzten Drei für den Pulitzerpreis dieses Jahres gebracht, der dann an den zehn Jahre älteren Colin Whitehead für „Die Nickel Boys“ ging. Vielleicht sieht Lerner die Konkurrenz um Literaturpreise so wie in jüngeren Jahren die Debatten-Meisterschaften: „Rituelles Zungenreden“.
– Ben Lerner: Die Topeka Schule, Suhrkamp Verlag, Berlin, 395 Seiten, 24.00 Euro, ISBN: 978-3-518-42949-5.
Christina Hesselholdt erzählt die Geschichte der posthum berühmt gewordenen US-Straßenfotografin Vivian Maier als fiktive Biografie. Hesselholdts herausragende stilistische Gaben und ihre unbefangene Neugier machen “Vivian” zum Lesevergnügen.
Von Thomas Borchert
Berlin (dpa) – Die Vorlage zu diesem wilden literarischen Stoff ist bekannt: Als Vivian Maier 2009 arm und vereinsamt stirbt, hat sie 40 Jahre Arbeit als Kindermädchen hinter sich. Es folgt posthumer Ruhm als geniale Straßenfotografin von 150 000 zu Lebzeiten nie öffentlich gezeigten und größtenteils nicht mal entwickelten Bildern. Maier hatte auf Streifzügen unentwegt Fremde fotografiert. Filmrollen und Negative sammelte sie genauso besessen und achtlos zugleich wie alle ausgelesenen Zeitungen ihrer Brötchengeber. Nach der Zufallsentdeckung sind Vivian Maiers Fotoarbeiten heute in Ausstellungen, Büchern und zuhauf auch im Netz zu sehen.
Eine rätselhafte Frau, deren Lebensweg Christina Hesselholdt zu ihrem zweiten auf Deutsch erschienen Roman nach “Gefährten” (2018) animiert hat. Pflückte die Dänin hier für die sechsstimmig erzählte Beziehungsgeschichte zwischen sechs Freunden munter aus der eigenen Biografie und erfand munter dazu, wendet Hesselholdt in “Vivian” den Blick nach außen. “Wir öffnen den Mund und heraus kommen – wir selbst. Das ermüdete mich und trieb mich, zumindest für eine gewisse Zeit, in die Arme der stummen Fotografien”, lässt sie die Erzählerstimme ihr Interesse an diesem Stoff begründen.
Wie in den “Gefährten” erzählen wechselnde Stimmen in meist kurzen Abschnitten. Was der tatsächlichen Biografie entspricht und was Hesselholdt erfunden hat, bleibt ungeklärt. Neben der ausdrücklich als Erzähler (für Gender-Puristen: Es kann auch eine Erzählerin sein) ausgewiesenen Stimme und der Hauptperson selbst kommen die vom Kindermädchen eher lieblos betreute Ellen und deren Eltern zu Wort, später auch eine fotografische Lehrmeisterin aus jungen Jahren.
Vivian tritt am Ende mit dem Erzähler in einen respektlosen Dialog ein, nachdem er ihr in den Mund gelegt hat: “Mein Bruder ist ein Junkie, mein Vater ein gewalttätiger Säufer, meine Mutter ist stinkend faul und schnorrt sich bei anderen durch, wann immer sich die Gelegenheit bietet, und noch dazu können sie einander nicht ausstehen.” Die so Zitierte kommentiert unbeeindruckt: “Die Leute lieben Rätsel, das Unabgeschlossene und das Unerklärliche sind wahnsinnig anziehend.”
Hesselholdt (Jahrgang 1962) sieht das wohl auch so. Sie jongliert durch ihr Stimmen-Arrangement mit stilistisch herausragenden Schreibertalent und vermag vordergründig Alltägliches oder Widersprüchliches genau wie Ungeheuerliches entspannt, witzig und charmant, ohne Theaterdonner in originelle Sätze fassen. Mit Vergnügen liest man sie oft zweimal. Ursel Allenstein hat das wie schon bei den “Gefährten” elegant ins Deutsche gebracht.
Hesselholdt kombiniert Sprachwitz mit unbefangener Neugier für ihre Personen. Vivian Maier bleibt für sie mit abstoßenden Zügen wie dem Zwangsfüttern widerborstiger Kinder und pathologischen wie ihrer Sammelmanie eine konstant interessante Figur. Hat sie doch ohne jedes Interesse an Aufmerksamkeit oder das Lob anderer, die harten Währungen der Facebook-Welt, ein fantastisches Lebenswerk geschaffen. Dass Sex in ihren 83 Lebensjahren nicht vorkommt, kommentiert Vivian nüchtern: “Weil ich für immer unberührt sein werde, brauche ich meine Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten wie Frisuren oder Kleidung zu verschwenden, ich bin hier um zu sehen.”
Am Ende bleibt das Gefühl, den Weg einer weiter Fremden verfolgt zu haben. Das mag auch der Preis sein für die hochgradig unterhaltsame, aber eben auch stark fragmentierte Erzählweise und viel Meta-Ironie oder -Selbstironie der Erzählerstimme. “Jeder, den man lange genug anstarrt, wird einem irgendwann befremdlich erscheinen”, befindet er gegen Ende, als es für Vivian ans Sterben geht.
Die EU-Unionsbürgerschaft – Porträt einer unvollendeten Schönheit
Kommentar
Die europäische Unionsbürgerschaft gewährt den EU-Bürger*innen das Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und bei Kommunal- und Europawahlen zu wählen. Bis zu einer echten europäischen Staatsbürgerschaft, die alle grundlegenden Bürgerrechte umfasst, sei es aber noch ein weiter Weg, kommentiert Thomas Borchert.
Den meisten ist die EU-Unionsbürgerschaft nur vage bekannt. Sie scheint speziell geformt, ganz anders als nationale Staatsbürgerschaften und ein mächtig dehnbares Ding zu sein. Jedenfalls können sie die unterschiedlichsten Kräfte für eigene Bedürfnisse zurechtlegen. Die rastlos und unüberhörbar für die Vereinigten Staaten von Europa trommelnde Ulrike Guérot sieht in einer vollgültigen EU-Staatsbürgerschaft den Schlüssel zur „Neuerfindung Europas“.
Eine Mehrheit der Briten dagegen ist mit dem Brexit schon vor der bisher alles andere als vollgültigen Unionsbürgerschaft geflohen. Populisten wie Nigel Farage und Boris Johnson haben ihnen erfolgreich eingeredet, dass ihr Kern, die freie Beweglichkeit, so abschreckend funktioniert wie eine Vogelscheuche: Nichts wie weg davon und die Schotten runter! Read the rest of this entry »
Sipri-Forscher Pieter Wezeman zu den Folgen der Pandemie für die globalen Rüstungsausgaben.
Herr Wezemann, wird die Corona-Pandemie den Anstieg der Militärhaushalte fast überall auf der Welt stoppen?
Natürlich werden die Länder weniger zum Ausgeben haben und viele ihre Militärhaushalte kürzen. Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen. In Frankreich zum Beispiel sagte das Verteidigungsministerium, nein, man müsse jetzt im Gegenteil mehr Geld vor allem für die militärische Ausrüstung bereitstellen. Denn Hilfe für die Rüstungsindustrie bedeute Hilfe für die Wirtschaft insgesamt. In Deutschland könnte ich mir vorstellen, dass man sagt: Wie können wir Airbus, zusammen mit Frankreich, am Leben erhalten? Eine Möglichkeit wäre, die Bestellung der geplanten 90 Eurofighter vorzuziehen. Norwegen hat gerade erst, obwohl schon die Corona-Krise ausgebrochen war und noch der extreme Einbruch des Ölpreises dazukam, eine Steigerung der Militärausgaben für die kommenden Jahre angekündigt.
Lässt sich da etwas aus der Entwicklung nach der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise lernen?
Staatsbürgerschaft: “Erwünschte aussuchen und Unerwünschte fernhalten”
Interview
Die Einbürgerungszahlen in Deutschland stagnieren trotz der steigenden Zahl hier lebender Ausländer*innen. Die Nachbarländer Dänemark und Österreich errichten immer unüberwindbarere Hürden auch für lange im Land lebende Zugewanderte. Der Wiener Politologe Rainer Bauböck erklärt im Interview internationale Trends im Staatsbürgerschaftsrecht angesichts weltweit zunehmender Migration und dem steigenden Einfluss von Rechtspopulist*innen.
Ausschnitt vom Plakat “What makes a good citizen?” von Nele Vos
Thomas Borchert: Das Staatsbürgerschaftsrecht macht im öffentlichen Diskurs eher selten Schlagzeilen. Woran liegt das?
Rainer Bauböck: Das war lange der Fall. Jetzt habe ich schon den Eindruck, das Thema wird zunehmend politisiert, aber eher von der rechten Seite. Ich sage noch etwas Riskantes: Auf der linken Seite sehe ich manchmal die Haltung, wir wollen mit dem Thema nichts zu tun haben, weil wir ja postnational sind. Es geht dann nicht darum, die Staatsbürgerschaft zu liberalisieren, sondern in gewisser Weise zu überwinden oder sie abzuschaffen. Denn die Linke will ja, dass die Menschen Rechte haben unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Das halte ich für einen fatalen Kurzschluss, wil diese postnationale Haltung nicht mehrheitsfähig ist und weil sie auch ignoriert, wie wichtig die Staatsbürgerschaft als Instrument für den Schutz von Rechten ist.
Die Liberalisierung des deutschen Einbürgerungsrechts durch Rotgrün 1999 gilt als erfolgreiches Modernisierungsprojekt: Jede Person, die hier zur Welt kommt, kann sofort Deutsche werden. Jetzt hat in umgekehrter Richtung die Große Koalition unter anderem den Entzug der Staatsbürgerschaft für IS-Kämpfer in Syrien und Irak ermöglicht und damit Verschärfungen durchgesetzt. In welche Richtung hat sich die deutsche Einbürgerungspolitik in den 20 Jahren dazwischen bewegt?
Es gab zwischen 1999 und 2019 durchaus ein paar kleinere Reformen. Der Kern der Reform 1999 war, dass eine Person automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft bei Geburt auf deutschem Territorium erhält, wenn ein Elternteil acht Jahre rechtmäßigen Aufenthalt gehabt hat. 2007 wurde die allgemeine Toleranz für doppelte Staatsbürgerschaften von EU-Bürger*innen eingeführt. Im Jahr 2014 gab es auch eine Reform des deutschen „ius soli“ durch Entschärfung der Optionspflicht. Das war aber kein großer Liberalisierungsschub. Jetzt kommt diese Idee, dass Staatsbürgerschaften stärker mit Sicherheitsthemen verknüpft werden und auch wieder entzogen werden können.
Wie sieht es damit international aus?
Deutschland ist nicht allein auf weiter Flur. Großbritannien ist am weitesten gegangen. Dort kann das Innenministerium Terrorverdächtigen die Staatsbürgerschaft entziehen, „wenn es dem öffentlichen Wohl förderlich ist“. Das schafft ein breites Ermessen der Exekutive, sogar in Fällen auszubürgern, wo die betroffene Person keine andere Staatsbürgerschaft besitzt.
In einigen Staaten sind Versuche gescheitert, einen Entzug der Staatsbürgerschaft für die sogenannten Foreign Fighters oder für Terrorismusverdächtige einzuführen. Das bekannteste Beispiel ist Frankreich unter Präsident François Hollande, wo die Nationalversammlung sich 2016 auf den Standpunkt gestellt hat: Staatsbürgerschaft ist ein Grundrecht, das vom Staat nicht entzogen werden kann.
Der Supreme Court in den USA hat in einer Reihe von Fällen des Entzugs der Staatsbürgerschaft in den 1960er Jahren festgestellt, dass die Bundesbehörden überhaupt nicht das Recht haben, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil ja die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, das heißt, von den Staatsbürger*innen insgesamt.
International gesehen ist die Tendenz zu einer Ausbürgerung aus Sicherheitsgründen in meinen Augen hochgradig problematisch, auch weil sie die Verantwortung anderen Staaten zuschiebt. Ausbürgerung kann in der Regel nur bei Doppel-Staatsbürger*innen erfolgen, weil die Staaten sich verpflichtet haben, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Die kanadische Juristin Audrey Macklin beschreibt die Folgen so: Da gibt es dann zwei Staaten, die einen Menschen für gefährlich halten. Der Staat, der schneller ausbürgert, schiebt dem anderen Staat die Verantwortung zu.
Immer mehr Länder führen Sprach- und Wissenstests ein vor Einbürgerungen. Halten Sie das für sinnvoll und welche Erfahrungen gibt es?
Das stärkste Argument gegen Tests ist, dass sie selektiv sind auf Grund von problematischen Kriterien, weil die Fähigkeit, Tests zu bestehen ja mit Bildungsschicht und Klassenzugehörigkeit im weitesten Sinn zu tun hat. Wissenstests funktionieren ähnlich wie Einkommenstests. Sie schließen eine bestimmte Gruppe von Einwanderinnen und Einwanderern vom Zugang zur Gleichberechtigung durch Staatsbürgerschaft und damit auch zum Wahlrecht aus.
In der Vergangenheit gab es in den europäischen Demokratien auch so etwas wie ein Klassenwahlrecht, bei dem Bürgerinnen und Bürger, die keine Steuern gezahlt haben, oder auch in manchen Fällen, die keinen Schulabschluss hatten, nicht wahlberechtigt waren. Jetzt ist die Frage, führt man das indirekt wieder ein, wenn man beim Zugang zur Staatsbürgerschaft und damit auch zum Wahlrecht solche Tests verlangt?
Das Argument auf der Pro-Seite lautet, dass Tests ein Anreiz sind für Einwanderer, die Sprache zu lernen, sich das Wissen über die Verfassung anzueignen und sich auch zu den Grundwerten zu bekennen, oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen, was die Verfassungswerte sind in diesem Land, dessen Bürgerinnen und Bürger sie werden wollen. Das Argument hat etwas für sich. Aber der Teufel liegt im Detail.
Die Frage ist, wie schwierig ist der Wissenstest, wirkt er eher exklusiv, weil die Hürde zu hoch ist? Oder wirkt er inklusiv, weil er auch für jene, die schwache Bildungsvoraussetzungen haben, noch zugänglich ist und einen Anreiz schafft? Wenn Letzteres der Fall ist, dann sehe ich eigentlich keine Einwände gegen Sprach- und Wissenstests.
Es gibt aber Länder, die die Tests eindeutig in der Absicht entwickeln, Einbürgerungszahlen zu reduzieren. Vor allem die Niederlande sind Trendsetter gewesen für Verschärfungen von Tests, die dann manchmal auch kuriose Blüten treiben. Viele Testfragen würden von den Einheimischen falsch beantwortet werden.
Ein maßgeblicher dänischer Rechtspopulist hat geschrieben: Wir brauchen zwei Einbürgerungs-Regelsätze: Einen für den zugewanderten Ziegenhirten aus Marokko und einen für den zugewanderten US-Ingenieur. Hat der Mann Grund zu Optimismus, dass daraus was wird?
Ich fürchte ja. Es gibt einen Trend, Staatsbürgerschaft für bestimmte Eliten ganz leicht zugänglich zu machen, vor allem für Investor*innen, prominente Künstler*innen oder Sportler*innen. Für diese werden Tests gestrichen, Doppel-Staatsbürgerschaft auch dort toleriert, wo sie sonst nicht erlaubt ist und manchmal sogar das Aufenthaltskriterium fallengelassen.
In Malta genügt es, wenn Investor*innen sich eine schäbige Wohnung billig mieten, ohne dort zu leben. In Deutschland sehe ich so etwas noch nicht am Horizont. Aber es gibt doch zunehmend die Einstellung, dass der Staat sich bei der Staatsbürgerschaft die Erwünschten aussuchen und die Unerwünschten fernhalten kann – durch Differenzierung der Zugangsregeln.
Da kann man auch auf die Idee kommen: Wer gebildet ist und ein Studium absolviert hat, die oder den brauchen wir nicht mit Tests schikanieren. Die Einbürgerungspolitik ist in Zusammenhang mit der Einwanderungspolitik zu sehen, die leichteren Zugang zur Aufenthaltsbewilligung verschafft für erwünschte Einwanderer. Von da ist es nicht weit zur Idee, die Einbürgerung für Universitätsabsolvent*innen, Spitzenverdiener*innen und besser Qualifizierte zu erleichtern. In negativer Weise geschieht eine solche Auslese heute schon durch Einkommenskriterien für die Einbürgerung.
Ist der gestiegene Einfluss von Rechtspopulisten bei diesem Thema sichtbar?
Ja, das würde ich vermuten. Der amerikanische Politikwissenschaftler Marc Howard hat schon 2012 festgestellt: Die Stärke der Rechtspopulisten im Parlament ist eine gute Erklärung dafür, wann und wo restriktive Reformen im Staatsbürgerschaftsrecht passieren. Es ist also interessanterweise nicht ihre Regierungsbeteiligung, sondern das Abschneiden bei den Wahlen. Was sich daraus schlussfolgern lässt, ist: Es sind auch die Zentrumsparteien, die aus Angst vor den Rechtspopulisten diese Reformagenda selbst übernehmen.
In Finnland sollen Männer und Frauen künftig zu gleichen Teilen bezahlte Elternzeit nehmen – eine Reaktion auf den Geburtenrückgang.
Die Nordeuropäer weisen wieder mal den Weg, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Nach einer weltweit als bahnbrechend gefeierten Elternzeit-Reform in Island bekommen jetzt auch Väter und Mütter in Finnland ähnliche Möglichkeiten. Als ersten Schritt hat die neue sozialdemokratische Regierungschefin Sanna Marin angekündigt, dass die bezahlte Elternzeit von 11,5 auf 14 Monate ausgeweitet und paritätisch zwischen beiden Eltern geteilt wird. Ab 2021 bedeutet das – nach finnischer Rechnung mit Sechs-Tage-Bezugssystem – einen Anspruch von jeweils 6,6 Monaten. Bis zu 69 Tage können auf das andere Elternteil überschrieben werden. Read the rest of this entry »
Brussig wechselt im Waschbär-Roman zu oft die Spur
13.02.2020
Thomas Brussigs “Die Verwandelten”. Foto: Wallstein Verlag/dpa
Thomas Brussig lässt zwei Jugendliche aus Mecklenburg in einer Autowaschanlage zu Waschbären werden und erzählt von der Vermarktung der sensationellen Verwandlung. Der Roman hat seine komischen Seiten.
Von Thomas Borchert, dpa
Göttingen (dpa) – Die mecklenburgischen Teenager Fibi und Aram verwandeln sich in einer Autowaschanlage in Waschbären, weil eine Quatschanleitung dazu aus dem Internet seltsamerweise funktioniert.
Dieser Start von Thomas Brussigs neuem Roman “Die Verwandelten”, vom Verlag als “komischer Gesellschaftsroman” beworben, wird manchen zurückzucken lassen. Auf der anderen Seite hat sich Brussig (55) seit seinem Vereinigungs-Bestseller “Helden wir wir” Mitte der 90er Jahre und dem Nachfolger “Am kürzeren Ende der Sonnenallee”, erfolgreich verfilmt als “Sonnenallee”, dem Publikum als immer unterhaltsamer Autor mit Falkenblick für Grotesk-Komisches eingeprägt.
Im neuen Buch greift er ins Volle und lässt seine beiden Hauptpersonen als Waschbären, “aber unter Beibehaltung ihrer seelischen Identität”, nach ihrer Tierwerdung das elterliche Zuhause im Dorf Bräsenfelde ansteuern. Das quicklebendige, trotzige Teenagermädchen Fibi kann sich auch als Waschbär munter unterhalten, während der zurückhaltendere Aram Menschen gegenüber verstummt. Vor allem aber hadert der talentierte Fußballer damit, dass die grundlegende Veränderung ausgerechnet am Tag vor seinem vielversprechenden Probetraining beim “Hasfau” (HSV) ihren Gang nehmen musste. Ansonsten aber nehmen Fibi und Aram den neuen Status und dessen vollkommen unerklärliche Ursache sensationell, denkt man als Leser, gelassen hin. Read the rest of this entry »
Stockholm schweigt über die Vorwürfe im Fall Assange. Verschwörungstheorien blühten im Land schon vorher.
Aus dem Mund eines angesehenen UN-Sonderberichterstatters für Folter ist der Vorwurf gegen den Rechtsstaat Schweden an Ungeheuerlichkeit kaum zu überbieten: Die erst nach neun Jahren eingestellten Ermittlungen gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Stockholm seien von Beginn an „ein abgekartetes Spiel“ gewesen, so erklärt der Schweizer Jurist Nils Melzer im Interview mit dem Online-Magazin „Republik“.
Wie mein Vater am 4. Mai 1945 in einem U-Boot nach Dänemark kam und ich am 30. Januar 1983 in einem Volkswagen.
Jyllands-Posten
Tegning: Rasmus Sand Høyer
Ein fast immer froher Marienkäfer aus Deutschland
02.02.2020
Alle kennen den VW-Käfer. In der großen Deutschland-Ausstellung des Kopenhagener Nationalmuseums bekommt er den Namen „Volkswagen-Marienkäfer“ verpasst. Charmant. In Jyllands-Posten steht, welche Erinnerungen das bei mir nach oben gespült hat:
Das Auge fällt beim Betreten der Deutschland-Ausstellung im Nationalmuseum sofort auf den aschgrauen Volkswagen, sorgsam restauriert und im Baujahr 1952 in Wolfsburg vom Band gelaufen. In dieser Stadt bin ich aufgewachsen, derselbe Jahrgang 1952, in zunehmendem Maß aschgrau, und sorgsam restauriert zu werden täte auch mir sehr gut.
Der Historiker Neil McGregor, Schöpfer dieser Ausstellung für das Britsh Museum in London, sieht den kleinen buckligen Volkswagen als fantastische Präzisionsarbeit von höchstem Karat, verfügbar für alle. Als frühes Beispiel für dieselbe Kombination erklärte er bei einem Vortrag in Kopenhagen mitreißend und schwärmerisch eine beeindruckende Präzisionsuhr aus dem 16. Jahrhundert. Albrecht Dürer feiert er als „ersten europäischen Künstler”, dessen Kupferstiche von Spanien bis Norwegen überall in Europa Verbreitung fanden. Johann Gutenberg bahnte mit der Buchdruckerkunst den Weg für die spätere Aufklärung. Und das Bauhaus (gegründet 1919) öffnete die Augen der Welt für einen muntere und demokratischen Blick auf das Leben. Read the rest of this entry »