Nobelpreise
Apfelharmonie und Frackzwang
Während das Image der Nobelpreise in den vergangenen Jahren mächtige Kratzer abbekommen hat, dürfte das Bankett für die Preisträger auch 2019 pompös ausfallen. FR-Autor Thomas Borchert gehörte einmal zu den Gästen. Das reichte ihm.
Er sei als „manche würden sagen: Groupie“ dabei, hat U2-Gitarrist The Edge (58) seine Teilnahme am letzten Nobelbankett im Stockholmer Stadthaus erklärt. Vorschriftsmäßig im Frack, aber krass gegen die Etikette mit Rockstar-Mütze auf dem kahlen Haupt, präsentierte er sich unmittelbar vor dem Nachtisch im TV-Interview als Fan von Nobelpreisträger Jim Allison. Der 70 Jahre alte US-Krebsforscher selbst, äußerst munter am Ehrentisch im Hintergrund zu sehen – mit Stoppelbart und schulterlang dünner Grauhaar-Mähne – verbreitete eindeutig mehr Rock-Kharma als der Edelfan in seinem Schlepptau.
Bei der Preisverleihung ein paar Stunden vorher, mit artiger Verbeugung vor König Carl XVI. Gustaf, hatte Allisons frisch geföhnte Frisur noch recht ordentlich gesessen. Jetzt, im aufgeheizten Bankett-Gewusel, zeigte sie zottelig in alle Himmelsrichtungen.
„Das hier ist DAS kulturelle Ereignis auf dem globalen Kalender“ umschrieb The Edge restlos begeistert und etwas ungelenk die pompöse Festveranstaltung. Natürlich steht sie auch jetzt wieder am 10. Dezember, dem Todestag von Preisstifter Alfred Nobel, auf dem Programm: Im Zentrum die diesmal 14 Nobelpreisträger, zwölf Männer und zwei Frauen – die Rollenverteilung scheint auch nach jahrelanger Genderdebatte beim nobelsten aller Preise auf der Welt immer noch eher klassisch zu sein.
Klassisch auch der Ablauf: Die 1350 Gäste futtern sich durch drei Gänge des wie ein Staatsgeheimnis bis zuletzt geheim gehaltenen Festmenus und lauschen kulturellen Darbietungen sowie Tischreden aller Nobelpreisträger (wie gesagt: 14!). Ihnen über die Schulter – und ganz genau auf den Sitz von Frack oder Abendkleid – schauen dabei mehr als eine Million Schweden, die sich alljährlich die unglaubliche viereinhalb Stunden dauernde Live-Übertragung ansehen. Bei zehn Millionen Schweden insgesamt, von denen zwei Millionen bei ganz wichtigen Fußballspielen vor dem Fernseher sitzen, eine erstaunliche Quote. Denn die meiste Zeit, jedenfalls gefühlt, sieht man nur eng gestellte Tischreihen, an denen Nobilitäten essen und miteinander plaudern. Wenn sie nicht miteinander schweigen. Hin und wieder steht ein Promi auf und teilt den Zuschauern daheim im Kurzinterview mit, wie schön das alles ist. Ganz oft ins Bild kommen am „Ehrentisch“ in der Mitte die Nobelpreisträger, gemixt mit den Angehörigen von Schwedens Königshaus, den Spitzen der Regierung sowie den feinsten der Nobeljuroren.
Um diese Crème de la Crème der Gäste herum gruppieren sich die restlichen Bankett-Gäste nach einem sorgsam sowie fast brutal hierarchisch ausgetüftelten Tischplan für Schwedens hier versammelte „Elite“: Vom Volvo-Chef über Politiker und die Kulturschaffenden bis hin zu Sportlern mit tollen Titeln – sie wollen alle dabei sein. Es gibt in Schweden keine begehrtere Form der Adelung als die Einladung zum Nobelbankett. Dafür muss man eben die Hackordnung schlucken: Je größer der Abstand zum Ehrentisch, umso geringer die Bedeutung. Jedenfalls wie die Nobelstiftung sie taxiert.
Klar also, dass letztes Jahr der weltberühmte Rockmusiker aus Irland fast direkt an den Ehrentisch andocken konnte. Der fröhlich devoten TV-Interviewerin legte The Edge, hier mit dem bürgerlichen Namen David Howell Evans auf der Tischkarte, eigene Verdienste als Unterstützer der Krebsforschung „dankbar für diese Möglichkeit“ dar. Und weil dann schon das Dessert („Apfelharmonie“ mit Vanillecreme, Karamellsoße und Haferkrümeln) rief, vergaß es der U2-Gitarrist offenbar, eine ganz andere Seite Jim Allisons, nämlich dessen musikalische, zu erwähnen. So steht der Nobelpreisträger beim jährlichen Onkologenkongress als Bluessänger und Mundharmonikaspieler von „The Checkpoints“ mit anderen Immuntherapiespezialisten auf der Bühne.
Das hätte jedenfalls ich interessanter gefunden als die Spenden des steinreichen Edge für die Krebsforschung. Womit ich mich mehr oder weniger diskret in diese Geschichte geschummelt hätte. Denn am unteren Ende der Nobelbankett-Hierarchie durfte auch ich schon bei dieser Inszenierung mitwirken. An Tisch 23, Platz 19 war ich in einer hinteren Ecke, unweit der Küche im fantastisch festlich geschmückten „Blauen Saal“ dabei. Es liegt 20 Jahre zurück, was aber nichts macht, weil ja die Inszenierung seitdem unverändert auf dem Spielplan steht. Mein Platz, ausgelöst durch den Literaturnobelpreis 1999 für Günter Grass, war ein ganz einfach erkaufter Platz als Reporter.
Heute würde so ein Presseticket umgerechnet 300 Euro kosten, verbunden natürlich mit Frackzwang. Vor beiden Ausgaben schreckten meine Chefs damals in der Hoffnung auf unwiderstehlich muntere Reportagen nicht zurück. Was hätten der wortmächtige Autor der Blechtrommel und Königin Silvia, die gebürtige Heidelbergerin, einander wohl zu sagen? Wie launig würde die Tischrede des auch in dieser Festwoche durchaus mal übellaunigen Preisträgers ausfallen? Und würde Grass beim abschließenden Ball im Goldenen Saal einen Stockwerk höher auch ein Tänzchen wagen? Vielleicht sogar mit Silvia?
Die Erinnerung – auch an die Antworten – kam jetzt lebhaft wieder zurück, als ich den Hollywood-Film „Die Frau des Nobelpreisträgers“ mit der brillanten Glenn Close sah. Beim abendlichen Festbankett, im Film eins zu eins nachgestellt, antwortet Close als Tischdame von Schwedens König auf die gönnerhafte Frage: „Und was treiben Sie denn so?“ leicht mysteriös: „Ich bin eine Königsmacherin.“
Der Regent hat natürlich keinen Schimmer, dass sie damit ihre Rolle als Ghostwriterin der Romane ihres nur mittelmäßig begabten, grenzenlos eitlen Mannes umschreibt. Dem hat sie ultimativ verboten, in seiner Tischrede nur ja nicht den rituellen Dank an die Ehefrau vom Stapel zu lassen. Als der mit den fremden Federn geschmückte Nobelpreisträger nicht mal dieses Zeichen von Respekt zustande bekommt und eine verlogene Dankeshymne an die „Frau an meiner Seite“ vom Stapel lässt, verlässt sie unter wildem Protest das Nobelbankett, Skandal!, und kündigt ihm die Trennung für immer an.
So dramatisch ging es mit Grass am Ehren- und mir am Katzentisch nicht zu. Der Autor aus Lübeck brachte tiefernst eine Hommage an seinen literarischen Mentor Hans-Werner Richter zu Gehör. „Von ihm habe ich Toleranz, Kollegialität und Bereitschaft zum Zuhören gelernt.“ Okay, dachte man, so verpackt also ein weltweit anerkannter Meister des Wortes Selbstlob. Den meisten Zuhörern mit jetzt mehr als anderthalb Gläsern edelsten Weines im Blut dürfte das entgangen sein. Ihre Reaktion fiel matter aus als bei der Tischrede des niederländischen Physik-Preisträgers Martinus J.G. Veltman, der sich äußerst unterhaltsam über die Gier tausender Wissenschaftler einschließlich der eigenen Person nach dem Nobelpreis, dem Preis aller Preise, ausließ. Ich war dankbar dafür und heilfroh, denn über die Konversation zwischen Grass und Silvia war absolut nichts herauszubekommen. Veltman sorgte für prima Ersatz im Korrespondentenbericht: „Der Saal tobte, und das Diadem auf dem Haupt von Königin Silvia wackelte vom royalen Lachen, als der Niederländer sich schließlich die Frackjacke von seinem enormen Bauch riss und singend bekannte: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.“
Auf den Tag zehn Jahre danach hielt die nächste deutschsprachige Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller auch eine ernste Bankettrede. Der Auftritt der in Rumänien geborenen Berlinerin passte zu ihrem schlichten schwarzen Kleid, wie man es sonst beim Nobelbankett selten zu sehen bekommt. Ihr erster Satz: „Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm, ist bizarr. Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst.“ Ich hörte ihr vor dem Hotelfernseher zu (300 Euro? – Ein Nobelbankett im Leben ist genug…), nachdem sie mir das mit dem „neben sich Stehen“ im Interview ein paar Tage vorher cool und uneitel erklärt hatte: „Für mich ist das alles mit dem Nobelpreis hier einfach ein Teil vom Job. Mit meinem Schreiben hat das nichts zu tun.“
Beim Bankett am Dienstag trägt mit Peter Handke wieder ein deutschsprachiger Literaturnobelpreisträger zum Festglanz per Tischrede bei. Sie wird ganz sicher auch tiefernst und tiefgründig ausfallen. Immerhin hat Handke vor der Abreise nach Stockholm, ehe er einen Journalisten wegen einer Frage zum Balkankrieg aus dem Haus warf, diesem noch entspannt bestätigt, dass ihn der Frackzwang beim Nobelfest durchaus beschäftige: „Da hab ich ein bissel Sorgen, welche Figur ich darin machen werde. Aber es gibt schlimmere Sorgen.“