
Von Thomas Borchert
Frankfurt/Main (dpa) – Gleich der erste Satz bindet die drei Hauptpersonen untrennbar für den Rest dieses spannenden Romans aneinander: «Anna merkte erst, wie nervös ihr Vater war, als sie das Haus von Mr. Styles erreichten.» Aus der Sicht der elfjährigen Tochter erzählt Jennifer Egan im Eröffnungskapitel von «Manhattan Beach» die eindeutig schicksalhafte, aber für sie unmöglich zu entschlüsselnde Begegnung mit dem reichen, mächtigen Dexter Styles an diesem Strand vor den Toren New Yorks. Dass ihr Vater Eddie, nach dem Börsencrash tief gefallen, als Handlanger für Kleinkriminelle Mitte der 30er Jahre schwer um das Überleben der Familie kämpfen muss, ist schnell klar. Aber was mag er mit reichen Dexter Styles ausgehandelt haben – oder eben auch nicht?
Etliche Jahre, aber im Buch nur ein paar Seiten später ist Anna Kerrigans Vater von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Die 19-Jährige hält die Mutter und ihre schwer behinderte und noch mehr geliebte Schwester Lydia als Marinetaucherin im Hafen von New York über Wasser. Der Zweite Weltkrieg mit akutem Mangel an männlicher Arbeitskraft hat ihr die Erfüllung dieses sehr eigenen Berufstraums möglich gemacht. 90 Kilo wiegt ihr Taucheranzug, und noch viel schwerer wiegen die männlichen Vorurteile jener Jahre gegen Frauen mit Lohnarbeit.
Jennifer Egans hochinteressante Hauptfigur setzt sich dagegen durch. Unerschrocken auch geht sie dem Verschwinden ihres Vaters auf den Grund, als der Nachtclubbesitzer Dexter Styles wieder in ihr Leben tritt. Der Gangster mit guten Manieren interessiert sich nach einer Zufallsbegegnung für ihre Arbeit am Grund der riesigen New Yorker Marinewerft wie auch für die junge Frau insgesamt. So sehr, dass er irgendwann selbst unter Lebensgefahr am Grund des moddrigen Hafenbeckens mit ihr nach Annas Vater suchen wird.
Jennifer Egan, Jahrgang 1962, hat sich mit raffiniert, originell und mitreißend zusammengebauten postmodernen Kunststücken wie «Vom anderen Ende der Welt (2012) in die Herzen von Publikum und Kritikern geschrieben. Elf scheinbar selbstständige Erzählungen in unterschiedlicher Form, eine davon eine Powerpoint-Präsentation aus der Welt der digitalisierten Musikindustrie entpuppen sich bei genauem Hinsehen als – Roman.
«Manhattan Beach» ist das in einem vollkommen konventionellen Sinn: Hier wird chronologisch geradeaus erzählt, abwechselnd aus der Perspektive der drei komplexen Hauptpersonen. Die Autorin interessiert sich für den alten, auch in New York ja längst zur Freizeitmeile umfunktionierten Hafen als Arbeitsplatz genauso wie mit nüchternem Blick für das Gangstermilieu der 30er und 40er Jahre. Beides waren prägende Element im New York jener Jahre. Ohne Pathos auch stellt sie ins Zentrum den Alltagskampf von Frauen um einen Platz in der Gesellschaft über Kind und Küche hinaus. Der Krieg begünstigt die Siegchance für Anna. Auch die Heimkehr der Soldaten kann das Rad nur noch begrenzt zurückdrehen.
Egan erzählt in der ersten Hälfte bedächtig, bis Spannung und Tempo in der zweiten gewaltig steigen: Warum verschwand der Vater? Lebt er noch? Schafft Styles den erwünschten Sprung vom Gangster zum respektierten Oberklassebürger? Egans Figuren sind nie Klischee, was sich von den hochdramatischen Verwicklungen zum Ende nicht immer behaupten lässt. Unter dem Strich: «Manhattan Beach» ist ein waschechter Pageturner von hoher literarische Qualität.