Schulreform in Finnland
Phänomene statt Fakten
Von Thomas Borchert

Die Fünftklässler an der Hiidenkivi-Gesamtschule in Helsinki haben zehn Wochen Projektunterricht über „Verbraucherfertigkeiten“ hinter sich –von den 27 Schülern in der Altersgruppe knapp über zehn Jahren als Thema selbst gewählt. Dreimal pro Woche je eine Doppelstunde ging es dabei um die Beantwortung von Fragen, die sie gemeinsam mit den Lehrern unter anderem für Mathe und Kunst als wichtig geortet hatten: Wie berechnet man die Kosten für den Hund oder die Katze zuhause, wofür geht das eigene Taschengeld drauf, wofür das der Großen in der 9. Klasse, und was steckt hinter dem Aufkleber „Fair Trade“ auf den Bananen? Man studiert gemeinsam Zeitungsartikel und geht zu Interviews in Geschäfte.
„Wichtiger als Fakten sind für Schüler in unserer heutigen Welt die Fertigkeiten, mit allen möglichen Phänomenen umzugehen“ betont ihr Klassenlehrer Petteri Elo dieses Muster für die jüngste Reform an den finnischen Gesamtschulen. Seit August ist mindestens eins solcher fächerübergreifenden Projekte Pflicht in allen Klassen. „Phenomenon-Based Learning“ (mehr im Netz auf http://pedanow.com/) heißt das Prinzip hinter dieser Unterrichtsform, und hat sich international als wieder mal fantastische Neuerung von den ja schon immer bewunderten Pisa-Gewinnern im Norden herumgesprochen.
Emsige Chinesen
„Finnland schafft die Schulfächer ab“ schaffte es als Schlagzeile über London in die „Washington Post“ und auch in deutsche Medien. Nur dass sie falsch ist. „Die Fächer bleiben für die Gesamtschule von der ersten bis zur neunten Klasse im Zentrum“, sagt Eija Kauppinen von der nationalen Schulbehörde.
Die Einführung des fächerübergreifenden Projektunterrichts neben dem traditionellen Fächerkanon erklärt sie mit dem deutlichen Abrutschen Finnlands auf den Pisa-Ranglisten: „Die grundlegenden Fertigkeiten unserer Schüler bei Mathematik, Lesen und Schreiben sind in den letzten Jahren rückläufig. Natürlich beunruhigt uns das, und das neue Curriculum ist eine Reaktion darauf.“
Sie heißt eben nicht „wieder mehr pauken“, um gegen emsige Chinesen bestehen zu können. Der ganzheitliche Lernansatz soll die im 21. Jahrhundert geforderte Fähigkeit zum Lernen als permanentem Prozess, zu Kooperation und Übernahme von Verantwortung fördern.
„Wenn Schüler in diesem Rahmen das Phänomen ‚Liebe‘ für ein Projekt spannend finden, warum sollen sie dafür nicht mit ihren Lehrern eine sinnvolle Unterrichtseinheit entwickeln können?“ fragt die Schulaufseherin Kauppinen. Sie will dabei absolut keine Aufsicht führen: „Wir vertrauen unseren Lehrern. Hoffentlich gehen sie innovativ mit dem neuen interdisziplinären Unterricht um.“ Spaß machen darf es auch gern.
Die Rahmenbedingungen für so anspruchsvolle Ziele haben sich im wirtschaftlich steil abgestiegenen Finnland alles andere als positiv entwickelt. Die Lehrergewerkschaft OAJ verweist auf immer neue Sparrunden mit höheren Klassenquoten und die hohen Arbeitsanforderungen für Lehrer mit komplett eigener Vorbereitung im neuen Projektsystem. Aber auch Gewerkschaftssprecher Jakko Salo sieht Vorteile: „Die geforderte Zusammenarbeit mit anderen Fachlehrern bringt sie ja andererseits von der ewig isolierten Einzelarbeit weg.“