Zu den Wahlen in Island

Posted on Updated on

28. Oktober 2016

Windwechsel

 Von Thomas Borchert

Für seine wilde Natur ist die Insel bekannt. In jüngster Vergangenheit zog die Politik nach.  Foto:  Íslandsstofa/ Promote Iceland

Die Aussischten für die isländischen Wahlen am heutigen Samstag lassen sich mit den Wetterverhältnissen des Landes vergleichen: Es wird stürmisch.

Die handfeste Aussicht auf eine Ministerpräsidentin von der Piratenpartei klingt genauso wild, wie ein Wetterbericht für Island: In Reykjavik Herbststurm mit eimerweise Regen, um die Ecke am Nationalpark Thingvelllir der erste schwere Busunfall mit Touristen bei Schnee mit Glatteis. Und hinter noch ein paar Bergen im einsamen Reykholttal strahlender Sonnenschein mit Aussicht auf eine kleine rotgrüne Holzkirche.

Sie verschönt das Küchenpalaver über den Wahlkampf. Kristín Ólafsdóttir und Óskar Gudmundsson freuen sich, dass die korrupten alten Regierungsparteien an diesem Wochenende ihre Rechts-Mehrheit mit Sicherheit verlieren werden und ausländerfeindliche Populisten einfach kein Gehör finden. Den tiefen Sturz der Sozialdemokraten in allen Umfragen knapp über fünf Prozent beklagen sie und sind bei den Piraten in der Rolle des wahrscheinlichen Wahlsiegers mit um die 20 Prozent noch unsicher.

Was soll man von einer Partei erwarten, deren Sprecherin Birgitta Jónsdóttir zwar „Systemveränderung“ an Haut und Haaren verlangt, aber auch im Wahlkampf die Mühen auf dem Weg zu mehr direkter Demokratie mit gleichgültigen Bürgern erklärt: „Das ist wie ein neues Computerprogramm in einem alten Mac installieren.“ Bei den Morgennachrichten aus dem Küchenradio werden Óskar und Kristín plötzlich so still wie ihr schönes Tal: In der Nacht hat die Erde unter Katla wieder gebebt. Islands gewaltigster Vulkan 500 Meter unter Gletschereis grummelt gewaltig. Óskar hat etliche Bücher über die tausendjährige Geschichte der Wikingerinsel geschrieben und orakelt: „Wenn Katla jetzt ausbricht, mit katastrophalen Folgen, könnte das die alten Kräfte doch noch retten. Es wäre wie ein Krieg, da stimmen auch alle konservativ.“ Kristín, die in der Hauptstadt angehende Lehrer ausbildet, schüttelt den Kopf: „Die Leute haben es nach den Panama Papers endgültig satt.“

Im April hatten die 330 000 Bürger erfahren, dass ihr rechtsliberaler Regierungschef Sigmundur Davíð Gunnlaugsson zusammen mit der Ehefrau Geld auf den Britischen Jungferninseln versteckt hatte. Finanzminister Bjarni Benediktsson von der konservativen Unabhängigkeitspartei stand im Regen wegen des viel zu billigen Verkaufs einer Staatsfirma, auch an seinen Onkel. Trübe Familiengeschäfte gehören eigentlich zu Islands Politik wie Kabeljau zum Speiseplan. Und diese waren nur ein Klacks im Vergleich zur faktischen Staatspleite 2008 als Werk größenwahnsinniger Banker und willfähriger Politiker.

Aber jetzt sammelten die Massen-Demos mit 25 000 vor dem Parlament „Althing“ viel mehr Empörte als nach dem Bankenkollaps, der doch das ganze Land ins Elend gestürzt hatte. Gunnlaugsson musste ruckzuck abtreten, seine Partei steht vor der Halbierung der Stimmenzahl. Benediktsson hat sich gehalten und mit seinen Konservativen, jahrzehntelang eine Art Staatspartei, einigermaßen erträgliche Wahlaussichten. Die alten Seilschaften trotzten im Angesicht von zeitweiligen 40 Umfrage-Prozenten für die Piraten auch ein halbes Jahr der Forderung nach vorzeitigen Neuwahlen.

Vielleicht würde der neu ausgebrochene Volkszorn ja doch rechtzeitig verrauchen. Bei den letzten Wahlen hatte es ja auch geklappt. Die Isländer wählten 2013 genau die Kräfte wieder an die Inselmacht, die vielen von ihnen kurz vorher den Verlust von Haus, Hof, Ersparnissen, Jobs sowie Rentenkürzungen und ein kaputtgespartes Gesundheitssystem mit der neoliberalen Wahnsinnsfahrt ihrer „Finanz-Wikinger“ eingebrockt hatten. Jetzt zieht Katrín Jakobsdóttir von den Linksgrünen als populärste Politikerin Islands durch den Wahlkampf, einfach weil sie allseits als „ordentlicher Mensch“ gesehen wird. Zusammen mit den Piraten als größerem Partner und zwei kleineren neuen Parteien könnte es für eine linke Mehrheit reichen.

Das Staatskanzlei in Reykjavík. Eines der ältesten Steinhäuser des Inselstaats.  Foto: Thomas Borchert

Die 40- jährige Ex-Ministerin gilt als aussichtsreiche Anwärterin auf das Spitzenamt, auch weil sie integrativ auftritt. Jakobsdóttir hat ihre Doktorarbeit über den heimischen Thrillerautor Arnaldur Indriðason geschrieben und gerät beim Thema Island-Krimi sofort in Wallung. Vielleicht gut für alle, dass sie die hemmungslos mit Elfen verkitschte Mörderjagd von Franka Potente im gerade präsentierten ARD-Krimi „Der Tote im Westfjord“ noch nicht gesehen hat: Das einzig Glaubwürdige an dessen Islandbild war neben dem Kampf um Fischfangquoten der Kirkufjell bei Grundarfjörður. Man sah den majestätisch schönen Berg alle fünf Minuten.

Jakobsdóttir präsentiert sich auch im Wahlkampf-Interview als ehrliche Haut: „Es ist der Verdienst der Piraten, dass Rechtspopulisten bei uns die riesige Unzufriedenheit mit den Politikern nicht ausnutzen können.“ „Wir bieten Hoffnung statt Furcht an,“ ergänzt Piratensprecherin Jónsdóttir. Routiniert erklärt sie dem deutschen Besucher, die dortige Piraten seien gescheitert am „nie überwundenen Clash zwischen allen möglichen Gruppen von Superrechten bis ultraharten Feministinnen“. Die eigene Partei sieht sie in einer Linie mit Podemos in Spanien, dem US-Demokraten Bernie Sanders, Syriza in Griechenland und der italienischen Bewegung „5 Stelle“.


Es folgt ein klassisch links und mitunter sogar einen Hauch revolutionär klingendes Bekenntnis zu „grundlegenden Systemveränderungen, und zwar schnell“ nach dem erhofften Wahlsieg. Vor allem zur gesellschaftlichen Kontrolle über Fangquoten, auf dieser von Fisch förmlich umzingelten Atlantikinsel ein sicherer Weg zu Geld und Macht. Filmstar Potente musste das als Isländerin Solveig auf die harte Tour lernen. Die echte Isländerin Jónsdóttir möchte eine neue Verfassung durchsetzen, das Gesundheitswesen grundüberholen und die auf Eis gelegten EU-Beitrittsverhandlungen zum Thema eines Referendums machen.

Sie packt ihr enormes Ego gelassen auch in die Bemerkung, das Amt der Ministerpräsidentin könne man anderen überlassen. Zu einer mitreißenden Reykjaviker Frauen-Großdemo für gleichen Lohn kommt die 49- Jährige im schweren schwarzen Punkermantel. Hier verbreiten weißhaarige Gewerkschaftsveteraninnen zusammen mit jungen Hardcore-Feministinnen, normalen Durchschnitts-Isländerinnen und auch Isländern eine fröhlich warme Kampfstimmung in der kalten Atlantikluft.

Diese Montagsdemo war der mit Abstand kämpferischste Beitrag zum Wahlkampf. Die Isländer haben acht Jahre nach ihrem Banken-Desaster mindestens so viel Grund zu Erleichterung über die wirtschaftliche Genesung des Landes wie zu Verbitterung über dessen Clanherren. Herren waren und sind sie fast alle. Unter 26 zu Haft für Betrügereien aller Art verurteilten Ex-Bankmanagern sah man eine Frau. Während die Banker im einsamen Kviabryggja-Knast ihre Strafen abbrummten, brummte die Wirtschaft ohne sie ganz schnell wieder. Die Fischerei boomt, und vor allem der explodierende Tourismus hat den Isländern in den letzten Jahren Wachstumsraten und wieder stabile Staatsfinanzen mit Zahlen beschert, von denen in Europa sonst nur geträumt wird.

„Man muss es wohl auch pures Glück nennen“, sagt der Wirtschaftsprofessor Gylfi Magnússon über diese Auferstehung. Er wurde vor dem Bankencrash als früher Mahner verlacht, sofort nach dem Eintreffen seiner Prophezeiungen als „Reformer“ für kurze Zeit ins Kabinett geholt, aber auch relativ schnell wieder abgedrängt. Magnússon vertrug die lauen Kompromisse nicht. Mit einigem Abstand sieht er das Land auf dem richtigen Weg: „Ich bin nicht Teil der zornigen Masse. Für meine fünf Kinder sehe ich in Island wieder die Chance auf eine strahlende Zukunft.“

Hat sie bald mehr zu sagen? Birgitta Jónsdóttir von der isländischen Piratenpartei Píratar auf einer Demo.  Foto: Thomas Borchert

Zum Glückstreffer wurde der in aller Welt bestaunte Eyjafjallajökull-Vulkanausbruchs 2010. Die Landeswährung Krone lag am Boden, die billig gewordene Vulkaninsel mit den überwältigend schönen, einsamen Tälern sowie riesigen Wasserfällen nebst heißen Quellen war in aller Munde. Flugs verwandelte sie sich zu einem Eldorado für Reisende sowie Reiseveranstalter. Statt 500 000 kommen jetzt pro Jahr fast zwei Millionen Besucher. Wer will, findet hier spielend leicht einen Job, halb Reykjavik vermietet die eigene Wohnung über Airbnb, neue Hotels schießen aus dem Boden wie ungeduldige Geysire. Für die Aussicht auf das spätherbstliche Nordlicht nehmen immer mehr Chinesen vom anderen Ende der Welt zahlungswillig fünf Tage mit Regen, peitschendem Wind und Sichtweiten von zehn Metern in Kauf.

Manchen ist das zu viel. „Am Flughafen Keflavik sollten wir ein ‚Ausverkauft‘-Schild aushängen,“ sagt ausgerechnet Heimir Hallgrímsson. Als Co-Trainer führte der Zahnarzt die sympathische Nobody-Elf seines Kleinstaates bei der Fußball-EM im Sommer in Frankreich zu sensationellen Erfolgen. Die Folgen gesteht er ohne erkennbare Reue ein: „Wir haben die beste denkbare Tourismuswerbung produziert. Nicht mal ein Vulkanausbruch hätte so durchschlagen können.“ Auch davon versteht der 49- Jährige als Bewohner der Westmänner-Inseln vor der Südküste eine Menge. Auf der Hauptinsel Heimaey wurde die Hälfte aller Häuser 1973 von einem Ausbruch getroffen, alle Bewohner mussten in Eile evakuiert werden. Einer starb.

Hallgrímsson erklärt mit dem Wiederaufbau, viel besser als vorher, auch gern den Überraschungserfolg im Fußball: „Wir haben jetzt für 4000 Menschen eine Fußballhalle, eine 18-Loch-Golfanlage, drei Handballhallen, vier Naturgras-Sportplätze, ein Hallenbad und etliche Fitnessstudios. Damit produzieren wir eine tolle Jugend.“ Die auch im Winter willig draußen trainiere. Der Sommer hat andere Tücken. Wegen der endlos vielen Touristen kommt Hallgrímsson mit seinem Skoda Octavia nicht auf die immer ausverkaufte Fähre Richtung Festland: „Wir müssen dringend die Infrastruktur ausbauen.“

Wie die meisten Landsleute sieht dieser Isländer Vulkanausbrüche wie auch selbst gemachte Katastrophen in einer größeren Perspektive: Es gibt beides immer, aber man kommt sicher heil heraus. Katla, der stärkste aller 130 Vulkane, hat nun mal im Durchschnitt alle hundert Jahre gespuckt, zuletzt 1918. 30 Kilometer hoch schoss die Rauch- und Aschesäule damals, dreimal so hoch wie beim Eyafjallajäkull-Ausbruch, der den Flugverkehr in Europa wochenlang lahmlegte. Die Zeit könnte wieder reif sein. Der nationale Krisenstab war nach heftigen Beben unter dem Vulkangletscher Ende August und September schon zusammengetreten. Das neue Rumoren ein paar Tage vor dem Wahltermin nahm man gelassener, erzählt Rikke Pedersen vom Vulkanologischen Institut in Reykjavik: „Es gibt aktuell keinen Grund zu Sorge. Allerdings kann sich das schnell ändern.“ Und wenn: „Die Ausbrüche von Katla sind sehr heftig, aber auch kurz.“ So lässt sich am Sonntag vielleicht auch das Wählerverhalten der Isländer erklären.

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