München (dpa) – Mit süßen Mädchen haben alle Mitleid, konstatiert nüchtern der Älteste der drei entwurzelten, bettelarmen Kinder auf der Jagd nach Essbarem und Schutz vor der Kälte. Dem anderen Jungen erklärt er, warum der als erwischter Ladendieb nicht mit Aufnahme in einer Familie rechnen kann, sondern sicher abgeschoben wird: Sie mögen Kinder nicht, die Augenbrauen haben wie du.
Ganz und gar nüchtern auch erzählt der Österreicher Michael Köhlmeier in Das Mädchen mit dem Fingerhut vom Irrweg des sechsjährigen Mädchens, mal mit den beiden älteren Jungen, mal allein, durch den Winter einer fremden Stadt irgendwo in Mitteleuropa. Mal wird sie ein paar Tage von einem mildtätigen Ladenbesitzer durchgefüttert, mal verhilft ein Villeneinbruch mit den Jungen zu vollem Magen und Wärme. Dann wird wieder gehungert und gefroren. Das Mädchen flieht aus einer Polizeistation, aus einem Heim und auch vor einer Frau, die sie unter seltsamen Bedingungen für immer aufnehmen will.
Was hilft es ihr schon, dass sie überall erstmal der Liebling ist? Ohne Orientierung in Raum, Zeit, Sprache, Erfahrung und Vertrauen in andere muss das Kind ohne Pause Weichen im Überlebenskampf stellen. Einsamkeit ist für diesen kleinen Menschen, der sich nicht mal des eigenen Namens sicher ist, erst mal ein praktisches Problem.
Ob sie ihre Eltern auf der Flucht verloren hat oder aus einer Romafamilie kommt und in welches Land mit unbekannter Sprache es sie verschlagen hat, bleibt offen. Bei der Lektüre drängt sich der Begriff Flüchtling nicht nur einmal auf, es ist aber nie davon die Rede. So wie auch Hans Christian Andersen in Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nie eine geografische Zuordnung oder eine Vorgeschichte lieferte für das Erfrieren eines armen Kindes draußen in der Silvesternacht, während die anderen es sich drinnen wohl sein lassen. Köhlmeier hat sich für seine Geschichte von diesem Märchenklassiker aus dem 19. Jahrhundert und Berichten über Wolfskinder inspirieren lassen, die nach der Massenflucht aus Ostpreußen 1945 elternlos im Baltikum herumstreiften.
Der 66-jährige Autor erzählt die Fortschreibung in unsere Tage vor allem, aber nicht nur, aus der Perspektive seiner sechsjährigen Hauptperson. Die schnörkellose, dabei nie kindliche Sprache mit fast immer kurzen Sätzen und ohne wertende Adjektive bei der Schilderung von Personen oder gar Gefühlen trägt zum Gelingen des erzählerisch anspruchsvollen Unterfangens bei. Es gibt auch eine verabscheuungswürdige Hexe, wie es sich gehört im Märchen. Aber sonst erweist sich die Gemengelage zwischen Böse und Gut hier als komplexer.
So wechselt auch die Leseperspektive zwischen der Sicht des Mädchens und der eigenen Zugehörigkeit zum Milieu fremde Stadt. Die maximalen Glücksträume der ausgeschlossenen Kinder: Nach dem Einbruch überwintern in einem Haus mit gefüllter Kühltruhe, Heizung, Internet und TV, dessen Besitzer die kalten Monate in wärmeren Gefilden zubringen. Und schön wäre es, mal gelobt zu werden.
Am Ende wird auch das Mädchen beim Kampf ums Überleben böse. Überraschender kommt eine andere Feststellung beim Zuklappen dieses kitschfrei das härteste Gemüt in Bewegung bringenden Romans: Köhlmeier hat auch eine spannende Geschichte geschrieben. Auf jeder der gerade mal 144 Seiten möchte man wissen, wie es weitergeht.
Michael Köhlmeier, Das Mädchen mit dem Fingerhut, Roman Hanser Verlag, München, 144 Seiten, 18,90 Euro, ISBN 978-3-446-25055-0.