„Ooh, so viel Hygge“
Von Thomas Borchert
Das spezielle dänische Glücksgefühl namens „Hygge“ hat der Weihnachtszwerg Pyrus in einem Lied erklärt: „Wenn man zusammen ist, und alle sind froh zur selben Zeit am selben Ort. Dann merkt man ein kleines bisschen Glück. Aber nur ein Stück. Hmm, das ist Hygge. Ooh, so viel Hygge.“ Das Ypsilon spricht sich als Ü. Pyrus hat es seit 1994 im erfolgreichsten TV-„Weihnachtskalender“ aller Zeiten alle paar Jahre wieder gesungen, und dann auch gleich an jedem Dezembertag bis Heiligabend.
30 Minuten dauert eine Episode. Ganz Dänemark versammelt sich am frühen Abend vor der Glotze und verfolgt die Abenteuer des gerade mal fingergroßen Heinzelmännchens samt Familie unter dem Dach der Kopenhagener Nationalbibliothek. Ganz Dänemark heißt: Alt und Jung und die Mitte, Arm und Reich, Kinder mit ihren Eltern und Großeltern, Stadt und Land. Einschaltquoten knapp unter dem EM-Finale. 24-mal unschuldige Spannung, ob es nach allerlei Hindernisläufen doch noch ein wieder mal herrliches Weihnachten für Pyrus und die anderen wird. Das ist dann Hygge.
„Hyggeligt“ geht es beim glücklichsten Volk der Welt eigentlich das ganze Jahr über zu. Mit den Kindern Würstchen in Teigtasche am Lagerfeuer vor dem Sommerhäuschen rösten: Hygge! Der „Fredags-Bajer“, das gemeinsame Büro-Bierchen am frühen Freitagnachmittag: Ooh, so viel Hygge! Die Silberhochzeit der netten Nachbarn, im Gartenzelt, mit gemeinsamem Singen selbst gereimter Festlieder: Reine Hygge!
Das finden auch die Hipster in den Zwanzigern, sie singen gerne mit und halten charmant das Textblatt für die Großtante mit der zittrigen Hand.
Ganz automatisch bekräftigen alle Dänen einander beim Wiedersehen nach jedem geselligen Beisammensein, wie gut man es miteinander hat: „Danke dafür. Es war hyggeligt.“ Unausgesprochen gehört dazu auch immer die Erleichterung, dass wieder alles so herrlich konfliktfrei abgelaufen ist. Unglaublich, wie oft man das H-Wort im Dezember von sich gibt, das mit „gemütlich“ nur unzureichend übersetzt wäre. Es geht mehr um das Grundgefühl.
Vor Weihnachten häufen sich die Hygge-Auslöser im Reich von Königin Margrethe II. fast schon bedrohlich. Jeder Arbeitsplatz, alle Uni-Lesegruppen, die Sportvereine und auch die Willkommensgruppen für Flüchtlinge laden zum „julefrokost“, dem Weihnachts-Essen und -Trinken. Beim Job ist es die große Sause mit Unmengen Alkohol. Hier kann man ungestraft die Chefin und den Chef verhöhnen sowie den Kollegen oder die Kollegin anbaggern. Da kocht die Hygge manchmal etwas über.
Blitzsauber bleibt sie, wenn Kinderkrippen, -gärten und -horte zum gemeinsamen Weihnachtssterne-Flechten bitten.
Die Fernsehsender überbieten einander mit Weihnachtskalender-Serien, die täglich gemeinsam geschaut werden wollen. Dieses Jahr sind es acht. Der fast 200 Jahre alte Kopenhagener Tivoli, über und über in weiche, warme Festbeleuchtung getaucht, lockt mit „Handgemachter Weihnacht“ gleich vom 13. November bis 3. Januar. Eintrittspreis 13 Euro, an Wochenenden 15, nur für das Angucken. Arme Eltern, wenn sie mit drei Kindern oder mehr von Hygge zu Hygge hetzen.
Für alle frei ist der Eintritt zum eindeutig hyggeligsten Weihnachtsmarkt der Hauptstadt. Die einstigen Anarcho-Rebellen in der „Freistadt Christiania“, dem Schrecken von Dänemarks Polizei, bieten in der Grå Hal, (Graue Halle), alternativen Christbaumschmuck, duftende Zimtholzschälchen aus dem nördlichen Vietnam, stinknormalen Glühwein und, diskret nebenan in der Pusher Street, illegalen Haschisch für die Feiertage an. Christiania ist nach Tivoli und Kleiner Meerjungfrau Kopenhagens beliebteste Touristenattraktion und eindeutig mitgemeint, wenn „Visit Denmark“ Weihnachtshungrige aus aller Welt mit der Behauptung lockt: „Hygge ist einzigartig dänisch.“
Zuwanderern erklären die Behörden gleich in 18 Sprachen hochoffiziell, dass sie das besser nicht auf die leichte Schulter nehmen: „In Dänemark sind wir stolz auf unsere Kultur. (…) Ein Kernbegriff der dänischen Kultur ist unter normalen Dänen der Begriff Hygge. Hygge ist ein Gefühl, dass in Gemeinschaft mit anderen entsteht, oder wenn man alleine ist, und dadurch gekennzeichnet ist, das man sich wohl fühlt und entspannt.“
Letzteres könnte auf die eine oder andere Art eventuell auch in Tschechien, Tansania, auf Kuba oder in Deutschland möglich sein. Aber diese Länder dümpeln bei den weltweiten Glücks-Umfragen bestenfalls im Mittelfeld herum. Bei ihnen scheint nicht Zufriedenheit, sondern das Gegenteil der Normalzustand zu sein. Die Dänen dagegen erklären sich Jahr für Jahr zum glücklichsten Volk der Welt, sind allerdings jetzt gerade mal von den Isländern und den Schweizern überholt worden. Wohl nur eine kleine Delle, denken viele, bald sind wir wieder oben. Das Grundgefühl, im besten aller Länder dieser Welt mit unbegrenztem Hygge-Potenzial aufgehoben zu sein, gehört so unverrückbar zum dänischen Selbstbild wie Bier und Schnaps zur Weihnachtsfeier im dänischen Betrieb.
Wer Alkohol meidet und auch sonst die hiesige Kultur nicht schon mit der Muttermilch eingesogen hat, kann sich außen vor fühlen. Nach 30 Jahren im Land schrieb der schwedische Sozialpsychologe Lasse Dencik: „Die dänische Hygge ist per Definition nur etwas für richtige Dänen.“ Der britische Journalist Michael Booth outet sich in seinem Buch „Es gibt da ein glückliches Land“ als Hygge-Gegner. Sie sei das „tyrannisch gnadenlose Streben nach einem mittelmäßigen Konsens“. Der heimische Soziologe Jørgen Øllgaard sieht es von innen ähnlich: „Hygge ist das Diktat eines konfliktfreien Zusammenseins, geboren aus kleinbürgerlicher Konfliktscheu.“ Alle drei sehen einen Zusammenhang zwischen der extrem harten Kopenhagener Ausländerpolitik und der nimmermüden Heraushebung der „Einzigartigkeit“ dänischer Hygge-Kultur durch Politik und Medien.
Man kratzt sich betrübt am Hinterkopf. Was kann denn Pyrus dafür, dass sein herausragender Hygge-Faktor von Chauvinisten ausgeschlachtet wird? Er hat doch nur mit den Zauberformeln des uralten Oberzwerges Guttenborg gespielt und dabei aus Versehen Weihnachten aus der dänischen Geschichte weggezaubert. Ob es bis zum 24. zurückgezaubert werden kann?
Als ganz Dänemark sich von der hübschen Weihnachtsgeschichte fangen ließ, war ich mit unseren damals kleinen Kindern begeistert dabei. Das schöne, leichte Gemeinschaftsgefühl namens Hygge habe ich als neue Erfahrung gern mitgenommen, obwohl damals wie heute kein „richtiger Däne“.
Viel hat sich geändert in den zwei Jahrzehnten seitdem. Jetzt am dritten Advent beim Schlangestehen mit einer Freundin vor dem schönen Weihnachtsmarkt von Christiania war das gute Gefühl mal wieder da. Alt und Jung und die Mitte, Arm und Reich, Kinder mit ihren Eltern und Großeltern, Leute aus Stadt und Land, breiteten eine entspannte, freundlich wärmende Stimmung miteinander aus, die man gern für akute Bedarfsfälle als Konserve einlagern würde. Eindeutig war aber auch, dass die „richtigen Dänen“ hier, bis auf Touristen und ein paar versprengte Langzeit-Zuwanderer, unter sich waren. Kurz nach dem Rundgang kam die Mail von der Freundin: „Det var hyggeligt.“