27 lange Stunden im Nachtzug Kopenhagen-Berlin
Es war ihre Idee, dass wir kurz vor dem Winterschlaf den neuen Nachtzug Stockholm-Kopenhagen-Berlin ausprobieren sollten. Welch eine schöne Einladung zu vernünftigem Umgang mit Zeit und Umwelt. Nicht mehr mit schlechtem Gewissen in einem Billig-Flieger hocken, der für diesen Kurzstreckenflug nicht mal den Aufstieg schafft, ehe die Landung beginnt. Darf man dafür mit zehnmal so viel CO2-Ausstoß wie als Zugpassagier die Zukunft der eigenen Kinder zerstören?
Natürlich nicht. Weil immer mehr Menschen das begreifen, gibt es wieder mehr Nachtzüge wie diesen einer schwedischenGesellschaft namens Snälltåget. Das ist ein altmodischer Gattungsbegriff für Schnellzüge. Klang gut. Ellen buchte ein Abteil nur für uns mit drei Kojen. Im Gefolge kamen zwei Mails mit den zu erwartenden Verspätungen wegen Gleisarbeiten.
Bei der Einfahrt unseres Zuges vom gottverlassenen Kopenhagener Vorort-Bahnhof Ørestad waren alle Vorabinfos über Verspätungen sofort vergessen. Denn er fuhr auf dem falschen Gleis ein. Einfach so. Wir drei mussten unsere zusammen 209 Lebensjahre samt Gepäck bei Herbststurm und Regen im Sprinttempo eine Treppe rauf- und eine andere wieder runterschleppen, um eventuell doch noch mitzukommen.
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Nach dem geglückten Einstieg zeigte sich, dass dieser Nachtzug auch der gewesen sein könnte, mit dem Ellen und ich 1983 durch die nun verschwundene DDR nach Berlin gereist waren. Mindestens so alt waren unser Waggon und auch dessen Inneneinrichtung. Auf die verschlissenen Kojen hatte man einfach dünne neue Matratzen gelegt. Vergeblich suchte ich nach einer Trittleiter, um in meine oberste Koje zu klettern. Sowie bei den unausweichlichen Toilettenbesuchen in der Nacht wieder herunter. Dass es zweimal ohne Knochenbrüche gelang, gefiel mir einerseits als Beweis doch noch vorhandener Geschmeidigkeit. Andererseits war auch die Toilette, wie soll man sagen, voll retro und mit zunehmender Reisedauer immer mehr retro.
Dass ich kein Auge zutat, hatte nichts mit dem Alter des Zuges zu tun. Die Däninnen schliefen in vollkommener Harmonie mit ihrem Schicksal durch, während ich urdeutsch und hellwach mit meinem haderte. Nach dem Aufwachen verliehen sie nicht nur einmal der Freude darüber Ausdruck, dass wir nun dank des zweistündigen Stillstands irgendwo auf freiem Feld in Norddeutschland in völliger Ruhe unsere Leberwurst-Stullen genießen konnten. Ich wurde losgeschickt, den preisgünstigen schwedischen Kaffee aus dem Zugbegleiter-Abteil zu besorgen.
Auf der Rückfahrt gab es den Kaffee sogar ganz umsonst, als Entschuldigung für vier Stunden nächtlichen Stillstand am dänisch-deutschen Grenzbahnhof Padborg. Wegen Gleisbauarbeiten, versteht sich. Hier ließen sich die ausgesprochen unterschiedlichen Haltungen in beiden Ländern zu der Frage studieren, was eine Grenze heutzutage bedeutet. Auf dem Hinweg gaben wir unsere Reise- und die Corona-Pässe beim Zugbegleiter ab, der sie dann wohl an die deutschen Zöllnerinnen und Zöllner weiterreichte. Man durfte weiterschlafen. So man denn konnte.
Auf dem Rückweg weckte ein dänischer Kontrolleur alle nachts um zwei in bestimmter Tonlage: „Passkontrolle!“ Das Reisedokument war von jedem selbst auszuhändigen. Sollte es darum gegangen sein, Terroristen oder anderen Unerwünschten den Zutritt ins schöne Königreich Dänemark zu verwehren, wurde in meinem Fall geschlampt. Ich konnte einfach im Dunkeln liegen bleiben und hätte wer weiß nicht was für ein Bösewicht sein können. Da waren die Kontrolleure zu DDR-Zeiten doch konsequenter, muss ich sagen, erkenne aber an, dass die dänischen Grenzkontrollen auf einem gutem Weg sind.
Ende gut, alles gut: Wir kamen in Ørestad kurz vor elf Uhr statt planmäßig 6.45 Uhr an, die Sonne schien, sogar ich war gut gelaunt nach schönen Tagen in Berlin und den ereignisreichen 27 Reisestunden im Nachtzug statt sicher langweiliger 19 laut Plan. Ellen und Gretelise verabredeten sofort die nächste Berlin-Tour. Dann auch mit Schwester Mari. Ich wurde nicht gefragt. Die drei buchten ihre Flugtickets.