Von Thomas Borchert
München/Berlin (dpa) – Ein ausgemergelter, abgerissener Endvierziger klingelt beim Freund aus Uni-Zeiten. Er will die Geschichte seines Scheiterns loswerden und wird erst wiedererkannt, als der Name des genialen Mathematikers Kurt Gödel fällt. Der hatte sich beiden im Studium in Oxford mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz eingebrannt: Dass es in widerspruchsfreien Systemen immer unbeweisbare Aussagen gibt. Zum Beispiel die von der eigenen Widerspruchsfreiheit.
So ahnt man beim anspruchsvollen Start von Zia Haider Rahmans Romandebüt «Soweit wir wissen» schon, dass es hier um die Grenzen von Wissen und Denken geht und Leser vielleicht anders gefordert sein könnten als bei einem Pageturner. Die Ahnung trügt nicht, auch wenn über 700 Seiten die Frage spannend bleibt, warum der in einem Dorf in Bangladesch geborene, in London ärmlich aufgewachsene, als junges Mathematikgenie, Investmentbanker an der Wall Street und Menschenrechtsanwalt erfolgreiche Zafar seine Geschichte dem Freund am Ende als schuldbeladener Obdachloser offenbaren wird.
Bis auf den letzten Teil stimmen die «Eckdaten» der Hauptfigur mit denen des Autors überein, und so darf man vermuten, dass viel Autobiografisches in dieses ehrgeizige Opus eingeflossen ist. Zafar erzählt dem Freund – auch gescheitert, auch aus Südasien nach England gekommen, aber Spross einer reichen und gebildeten Oberklassefamilie – von seinem Kampf mit Ratten in der elterlichen Kellerwohnung in London, von elegant verkleidetem Klassendenken britischer Kommilitonen, mit oder ohne Rassismus, vom Gezeitenwechsel für muslimische Immigranten mit dem 11. September 2001, den Irrsinnsgeschäften und -einkünften als New Yorker Finanzbroker bis zum Kollaps 2008.
Er kann aus eigener Anschauung erzählen von all den westlichen «Helfern» am Kriegsschauplatz Afghanistan mit ihrer Version von modernem Kolonialismus. Davon versteht auch Emily eine ganze Menge, Zafars große Liebe, Tochter aus gutem britischem Haus und ewig unentschieden in ihrer Hingabe zum Partner mit der ganz anderen Herkunft. Das herzzerreißende Auf und Ab dieser Beziehung, quer über den Globus und mit hochdramatischen Wendungen, verschafft dem Roman einen durchgehenden Spannungsbogen, auf den letzten 200 Seiten dann auch mit Pageturner-Qualitäten.
Bis dahin verlangt die Lektüre Bereitschaft zu geduldigem Mitdenken bei den Gesprächs-Ausflügen der beiden Hauptpersonen in immer neue Ecken von Wissenschaft, Geschichte, Kultur und logischem Denken. Auch eine zweifelhafte Vaterschaft wird hier mit ziemlich komplexen Berechnungen zur weiblichen Periode und brillanter Logik gelöst: Welcher Mann wann wo gewesen ist und deshalb infrage kommt.
Nicht umsonst tauchte in den durchweg begeisterten Rezensionen der englischen Originalausgabe immer wieder der Hinweis auf G.W. Sebalds hochkomplexes Hauptwerk «Austerlitz» als vergleichbar auf. Joyce Carol Oates, seit Jahren als Autorin immer knapp vor dem Literaturnobelpreis, stellt Rahmans Debüt auf eine Stufe mit dem «Zauberberg» von Thomas Mann und zitiert den deutschen Nobelpreisträger als Ermunterung zur Rahman-Lektüre: Nur das Anstrengende sei wirklich interessant.
Wohl war. Rahman selbst nennt und zitiert fleißig literarische Leitsterne von Joseph Conrad über Graham Greene und John le Carré bis zu Rabindranath Tagore und auch Sebald. In der Mitte richtet er mit Worten Italo Calvinos einen durchaus selbstbewussten Durchhalteappell an den Leser: «Die Literatur lebt nur, wenn sie sich maßlose Ziele setzt, auch jenseits aller Realisierungsmöglichkeiten.»
Danach hat er sich gerichtet: Hier will einer die Grenzen von Wissen und Denken in einer grenzenlos vernetzten, chaotischen Welt und zugleich ganz und gar altmodischen Welt ausleuchten. Man liest es mal aufgeregt und erhellt, mal hilflos seufzend mit dem Wunsch nach etwas weniger und klappt am Ende «Soweit wir wissen» trotzdem aufgewühlt und gerührt zu.
Rahmans Hauptfigur helfen brillantes Denken, Unmengen Wissen, seine Weltläufigkeit zwischen Ost und West kein bisschen gegen den totalen persönlichen Zusammenbruch. Dass die Kindheitserfahrung von tiefer Armut und Erniedrigung als Verachtete in einer Kassengesellschaft Menschen ein Leben lang unauslöschlich prägt, lässt der Migrantensohn Zafar eher beiläufig fallen. Man fühlt sich durchaus in einem Zauberberg, wenn dieser Romanheld mit der eigenen Geschichte erzählt, wie fundamentale Triebkräfte zwischen Liebeswunsch und Rachsucht im Dschungel von postmodern globalisiertem Leben, Wissen und Denken ihren Weg finden und womöglich explodieren.
Soweit wir wissen
Autorenseite
Zia Heider Rahman: Soweit wir wissen, übersetzt von Sabine Hübner, Berlin Verlag, Berlin/München, 704 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-8270-1298-2