Plädoyer vom Invalidenfriedhof für Fahrradhelme
Berliner Adventsengel kann man bei schönen Festen, aber ganz unerwartet auch auf einem Friedhof treffen.
Der dritte Advent in Berlin war sehr schön wegen des Adventsfestes bei Maria&Ruth in der Warschauer Straße. Zwölf Stunden Party von Eins bis Eins ohne Langeweile – im ersten Drittel auch ganz ohne Alkohol – erlebt man nicht alle Tage. Ihr kennt vielleicht oder vielleicht doch nicht das Gefühl am nächsten Morgen, wenn bei völliger Ermattung die Begeisterung in Depression und Selbstanklage umschlägt? Wegen all des Unsinns, den man im letzten Drittel von sich gegeben hat? So ging es mir. Bis der Entschluss fiel, umgehend wieder ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden. Ich machte mich gegen Abend auf zur Heinrich Böll-Stiftung in der Schumannstr, wo kluge Experten in der Reihe “Was du nicht siehst – Konkrete Utopien” ein allen auf den Nägeln brennende Frage behandeln wollten: “Revolutionieren 3-D-Drucker und Open-Source-Produktion unser Leben?”
Bisschen enttäuscht von den Antworten (“Jeder wird sich den eigenen Lieblings-Kaffeebecher beliebig oft ausdrucken können. Unsere Utopien sollten allerdings vielleicht weiterreichen.”), aber begeistert von mir als wieder nützlichem Glied der Gesellschaft radelte ich in abendlicher Dunkelheit heimwärts. Wie immer über den Invalidenfriedhof am Nordufer. Der Hauptweg, längs Resten der hier früher zwischen Gräbern verlaufenden Mauer, ist für Räder frei und gut beleuchtet. Diesmal kam ich nur leider quer herein, zügig vorbei am Verbotsschild für Räder. Es war stockdunkel, das Blinklichtchen vorn am Rad half wenig. Ich dachte: “Vielleicht gibts hier ein Hindernis irgendwo, wer weiß, ich sollte etwas lang….”
Da macht es Bum, das Rad stoppt augenblicklich, während ich weitereile. Nach der harten Landung suche ich Orientierung. Unter mir identifiziere ich die goldziselierte Buchstabenfolge “Kes…”. “Ah ein Grab”, denke ich (und erst später an den schönen Film”Kes” von Ken Loach mit der unvergesslichen Fußballszene auf dem nordenglischen Acker…) und versuche aufzustehen. Geht aber nicht, weil sich ein Fuss irgendwie in ein Gewirr aus dem Rad und was anderem Metallischem verhakt hatte. Das kann heiter werden, hier auf dem Grab in der Dunkelheit, wenn keiner vorbeikommt, denke ich. Es tropft vom Kinn.
Irgendwie gelang dann doch die Auferstehung aus eigener Kraft. Daheim verarztete mich die wunderbare Nachbarin Karin mit ein bisschen Pflaster und viel Wärme. Interessant auch ihre cineastischen Vergleiche meines Äußeren mit Figuren aus den blutigen Tarrantino-Filmen (“Reservoir Dogs”).
Am nächsten Morgen schaute ich mir das Hindernis mitten auf meinem Weg bei Licht an. Erinnerungen an eine empfehlenswerte TV- Serie wurden wach. Der “Tatortreiniger” hätte an Fahrrad und Grab doch auch ein bisschen was zu tun gehabt.
Was mag der Generalleutnant Gustav Friedrich von Kessel gedacht haben, als ich angeflogen kam? War es der erste Besuch dieser Art für ihn? Der Autor des Wikipedia-Eintrags zum Invalidenfriedhof scheint mein Problem geahnt zu haben: “Das ungünstig gelegene Grab von Gustav Friedrich von Kessel (1760–1827), der einige Jahre zuvor als erster Invalidenhaus-Kommandant außerhalb des bis dahin bevorzugten Bereichs der „Kommandantengräber“ beigesetzt worden war, musste in die Mitte des vorderen Wegekreuzes eingebunden werden.”
Eine bessere Reklame für Fahrradhelme gibt es nicht, oder? Mich jedenfalls seht Ihr nicht mehr ohne radeln.
P.S. Milan war einer von den vielen Supernetten beim Adventsfest. Hier beim Waffelbacken.