Für die Serie zur Suche nach Freiheit in der Frankfurter Rundschau

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Freiheit

Wir sind so frei: Was wir wollen, wofür wir streiten, was wir riskieren
14. Oktober 2015

Kopenhagen Leben in der Freistadt Christiania

 Von Thomas Borchert

Rauchzeichen: Polizisten suchen im März 2014 während einer Razzia in Christiania nach Marihuana.  Foto: afp

Auf der Suche nach einer Identität: Die Kopenhagener Alternativ-Kommune braucht dringend Veränderung.

Die Dänin Line Barfod zögert keine Sekunde auf die Frage, ob in der „Freistadt Christiania“ mehr Freiheit zu finden ist als anderswo. „Wo sonst gibt es die Freiheit für alle, auch die Schwächsten, zu bezahlbaren Mieten zu wohnen, ohne dass sich irgendjemand daran bereichern kann?“ Wie wahr, müssten eigentlich alle Kopenhagener seufzen. Sie sind in ihrer sonst so lebenswerten Stadt einem brutalen Wohnungsmarkt mit astronomischen Quadratmeterpreisen unterworfen. Die 900 „Christianitter“ auf dem 1971 besetzten Kasernengelände im Herzen der dänischen Hauptstadt aber, zahlen immer noch eine weitgehend einheitliche, bescheidene „Gebrauchsmiete“. Niemand kann den Wohnraum in feinster Lage – Dorfidylle mitten in der Metropole – privat verkaufen. Über die Vergabe entscheidet basisdemokratisch die Vollversammlung.

Der Ruf nach Räumung dieser „Insel der Gesetzlosen“ hat vom ersten Tag bis heute zur Grundausrüstung des bürgerlichen Dänemark gehört wie die Verteidigung Christianias zur linken DNA. Ausgetragen wurde der Streit im Sitzungssaal des „Folketing“, nur zehn Fußminuten entfernt vom Christiania-Eingang, aber auch in Gerichtssälen, bei Straßenschlachten, zahllosen Razzien und in Zeitungskolumnen. Barfod hat alles als Parlamentsabgeordnete der linken Einheitsliste miterlebt und als Anwältin am Friedensschluss zwischen dem Staat und Christiania aktiv mitgewirkt: Die Bewohner konnten 2011 einen Großteil des Geländes zum Spottpreis von 85 Millionen Kronen (elf Millionen Euro) kaufen und den Rest über einen Fonds mieten. Die ziemlich autonome Selbstverwaltung bleibt.

War das die endgültige Adelung des bis heute unverändert geltenden „Grundgesetzes“ von 1971? „Christianias Ziel ist der Aufbau einer selbstgesteuerten Gesellschaft, in der jedes einzelne Individuum sich frei und in Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft entfalten kann“. Das hatten die (durchweg männlichen) Kasernenbesetzer Sven, Kim, Ole, nochmal Kim und Jakob nur mit ihren Vornamen unterzeichnet.

Wie genau das fast funktioniert, nehmen inzwischen mehr als eine Million Touristen pro Jahr unter die Lupe. Sie bestaunen die Mischung aus mal charmant, mal böse heruntergekommener Posthippie-Idylle ohne Autolärm. Einladende Alternativ-Kleinbetriebe blühen direkt neben der rohen, unfreundlichen Pusher Street mit dem illegalen Haschischhandel. Alles zusammen Kopenhagens größte Attraktion nach der Kleinen Meerjungfrau und dem Tivoli. Dass Christiania mit 34 Hektar ziemlich genau der Größe des Berliner Zoos entspricht, sei ohne Häme zur Veranschaulichung erwähnt.

Ganz seriös auch gehört die heimische Tourismusindustrie zu den eisernen Verbündeten der Freistadt. Wie auch PR-Gurus, international angesagte Architekten bis hin zu den Stars der erfolgreichen „neuen nordischen Küche“ in Dänemarks Hauptstadt durchweg bekennende Christiania-Fans sind. „Ohne die frischen Ideen und den Kampfgeist von Christiania hätten wir heute ein viel gleichförmigeres Kopenhagen, mit einer Autobahn mitten durch die Stadt“, meint Barfod über die Ringwirkungen der Freistadt auf die Stadtentwicklung.

Als Symbol dafür nennt sie das dreirädrige „Christiania-Bike“ zum Transport, vor allem von Kindern. In der Freistadt erfunden und ab 1984 in der „Christiania-Schmiede“ gebaut, ist das Lastenrad aus dem Kopenhagener Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Manche Schulen haben extra Parkplätze für diese Räder. Sie funktionieren einfach in der Stadt besser als das Auto. Ein Exportschlager dazu, wie man zum Beispiel in Berlin und Hamburg studieren kann. Was für ein Sieg für die Umwelt!

Nur gehört zur Geschichte auch, dass die Sieger aus Christiania geflüchtet sind. Schon lange werden die Räder auf Bornholm produziert. Die Macher, Christiania-Veteranen der ersten Stunde, hatten den täglichen Frust mit allzu vielen nassauernden Mitläufern in der Freistadt und der kriminellen Energie der zeitweilig hier fest etablierten Rocker mit ihrem Haschischhandel satt. Dass ausgerechnet Christiania massiv Widerstand gegen eine von der Stadt geplante neue Fahrradstrecke vom Inselstadtteil Amager quer durch die Freistadt ins Zentrum leistete, hat auch für ganz schlechte Presse gesorgt. Es sei einfach viel zu eng, argumentierten die Christianitter. Für andere sah es aus, als ob sich die Alternativen genauso egoistisch in einer privilegierten Wohnlage einigeln wie Kleinbürger hinter hohen Hecken ihrer Vorstadt-Immobilien. Man nennt letztere hier gern „Liguster-Faschisten“.

Aus der dritten Christiania-Generation, ungefähr 20 Jahre später in der Freistadt geboren und aufgewachsen, melden sich Stimmen mit Kritik an den etablierten Veteranen. „Wenn das so weitergeht, kann die Pusher Street das Ende von Christiania bedeuten“, sagt die 20-jährige Olivia Øllgaard. Sie stellt in „Politiken“ dem Freiheitswillen der Freistadt gegenüber dem Drogenhandel ein deprimierendes Zeugnis aus: „Um es klar zu sagen: Die Christianitter trauen sich an die Pusher nicht ran. Früher sind sie vor denen nicht eingeknickt. Das tun sie jetzt.“ Politiken-Journalist Olav Hergel setzt noch einen drauf: „Alle wissen doch, dass Christiania in hohem Maß vom Haschischhandel lebt.“

Deutliches Feindbild: Wandmalerei in Christiana 2006.  Foto: rtr

Øllgaard und ihre gleichaltrige Freundin Ditte Gjerlev wünschen sich einen internen Aufstand gegen diese Abhängigkeit. Aber ein netter soll es sein, eben im Christiania-Geist. Selbst proben sie ihn mit ihrer Gruppe „Make Room 4 Da Youth“ schon mal beim Kampf um den begehrten Wohnraum in der Freistadt. „Die alten Christianitter sitzen auf ihren paar Quadratmetern und sagen uns: Klar sollt ihr auch Platz bekommen. Nur eben nicht gerade bei mir“, berichtet Gjerlev, ebenfalls in „Politiken“.

Von außen sieht Anwältin Barford als größte Gefahr, dass die Freistadt den über Jahrzehnte erfolgreich verteidigten und nun gesetzlich gesicherten Freiraum aus Müdigkeit wegschenkt. „Kopenhagen hat sich, auch von Christiania inspiriert, ja sehr lebendig erneuert und die Freistadt inzwischen teilweise überholt.“ Die Christianitter müssten aufpassen, dass sie nicht zu einem „Hippie-Freilichtmuseum“ werden.

Frischer Wind kommt ausgerechnet von ganz Betuchten. Als neuer Nachbar zieht demnächst Starkoch René Redzepi mit seinem viermal zum „weltbesten Restaurant“ gekürten Noma an die Außengrenze von Christiania. Der Mindestpreis für ein Noma-Menu beträgt 2500 Kronen (350 Euro), ungefähr so viel wie die monatliche „Gebrauchsmiete“ in Christiania. Redzepi kennt und mag seine neuen Nachbarn, wie er in Interviews immer wieder erzählt: Etliche schicke Eisensachen im Restaurant seien von den Lesben der Frauen-Schmiede geschmiedet. Die Freistadt-Sauna besuche er oft, und die handgefertigten Räder vom Bike-Shop in Christiania seien auch erste Sahne. Selbst will der Kochweltmeister das Bild mit einem ökologischen Stadt-Bauernhof, fließenden Beeten und einem Gewächshaus auf dem Dach anreichern. Klingt nach Christiania, ist aber gar nicht Christiania.

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