Kopenhagener Aufstand gegen “rassistische” Neumeier-Choreografie

Was Othello nicht tanzen soll
23.11.2022
Von: Thomas Borchert

Das Kopenhagener Ballett kündigt dem Choreografen John Neumeier die Zusammenarbeit auf.
Für die Ballettwelt ist eine aufwühlendere Mitteilung schwer vorstellbar: Das Königliche Ballett in Kopenhagen hat dem Choreografen John Neumeier die Zusammenarbeit aufgekündigt, nachdem Tänzerinnen und Tänzer „rassistische Stereotypen“ in seiner „Othello“-Fassung kritisiert und Änderungen verlangt hatten. Stein des Anstoßes ist eine Szene mit Othello als von Desdemona imaginierter schwarzer Stammestänzer, der „Affenlaute“ ausstößt.
Der weltweit hoch geschätzte 82-jährige US-Amerikaner, seit einem halben Jahrhundert Chef des Hamburger Balletts, schreibt in einem Kommentar, er sei „traurig“ über diese Beendigung von 60 Jahren „harmonischer, fruchtbarer und freundlicher Beziehung“. Zur Kritik meint er: „Auch wenn ich Einwände gegen die Färbung eines Tänzerkörpers zur Porträtierung der Rolle verstehe, glaube ich nicht an die Zensur der choreografischen Form.“ Er habe sein Konzept und den dramaturgischen Sinn des „Wilden Kriegers“ und seine Studien „afrikanischer Jagdtänze“ sowohl erklärt wie physisch vorgeführt. Für Neumeier kam die wenig später per Email mitgeteilte Beendigung der Zusammenarbeit überraschend. Nach der Aussprache habe man aus seiner Sicht „in positiver Harmonie weitergeprobt“.
Magnus Restofte, Pressechef des Königlichen Nationaltheaters, fasst den Verlauf anders zusammen: „Bei den Proben zum ‚Sommernachtstraum‘ gab es Herausforderungen hinsichtlich des Arbeitsklimas und der Zusammenarbeit mit John Neumeier.“ Laut der Zeitung „Politiken“ gingen die Wogen so hoch, dass Ballettchef Nicolaj Hübbe herbeigerufen wurde. Der habe Neumeier erklärt, er solle nicht die Tänzer und Tänzerinnen beschimpfen, sondern ihn, denn nur er sei es gewesen, der „Othello“ aus dem Programm genommen hatte. Anschließend habe er ihm die Tür gewiesen.

Tatsächlich hatte das Ensemble seinen Protest gegen die „Othello“-Interpretation schon im Frühjahr angemeldet. Hübbe, in jungen Jahren selbst ein international erfolgreicher Tänzer, versuchte Neumeier zu Änderungen zu bewegen, die dieser verweigerte. Hübbe entschied sich für die Streichung von „Othello“ und setzte stattdessen Neumeiers Ballettversion „Ein Sommernachtstraum“, nach einem anderen Shakespeare-Klassiker, auf das Programm. Wogegen der offenbar nichts hatte, sonst wäre er nicht im November zur Generalprobe in die dänische Hauptstadt gereist.
Garant für ein volles Haus
Kaum irgendwo sonst ist der Choreograf eine so hoch geschätzte Ballett-Instanz wie hier. Mit der fast gleichaltrigen, im eigenen Land ungeheuer populären dänischen Königin Margrethe verbindet ihn eine Freundschaft. Schwerer in der Kopenhagener Debatte über das Für und Wider dieses Rauswurfs dürfte die kommerzielle Bedeutung Neumeiers für das Ballett im dänischen Nationaltheater wiegen. Wenn Neumeier auf dem Plakat steht, ist das die halbe Miete für ein volles Haus. Hübbe habe deshalb mit seiner Aufkündigung der Zusammenarbeit eine „Selbstmordbombe“ detonieren lassen, meint der Ballettkritiker Alexander Meinertz.
In der TV-Dokumentation „Tanz mit Rassismus“ hat der 55- jährige Hübbe eine faszinierend offenen Einblick in seine Beweggründe für die Absetzung von Neumeiers „Othello“ gegeben. Nie im Leben würde er dem Choreografen Rassismus unterstellen. „Aber wenn sich die jungen Kräfte beim Tanzen unwohl fühlen, muss ich mich dem stellen.“ Auch weil die Zukunft des Balletts von deren Arbeitskraft abhängig sei. Einerseits: „Als Chef bin ich da auch ein bisschen stolz. Die sagen einfach hey, das geht so nicht.“ Andererseits: „Ich bin heute weniger mutig als früher und guck mir schon selbst mehr über die Schulter, was alles passieren kann.“
Dabei hört der Ballettchef auch Solotänzerin Astrid Elbo zu, die schon die Desdemona in Neumeiers „Othello“ in Hamburg getanzt hat. In der TV-Doku sagt die 28-Jährige: „Kolleginnen und Kollegen, die nicht wie ich weiß sind, müssen jeden Abend die Diener- und Sklaven-Rollen tanzen“. Und zum „ Stammestänzer“ Othello: „Wenn sie in diese Rollen immer aufs Neue schlüpfen, führt das zu einer Retraumatisierung. Damit muss Schluss sein.“ Sie sei ja eine „weiße Cis-Frau“, aber auch das bei den Klassikern dominierende Stereotyp leid, demzufolge die Frau zerbrechlich sei und vom starken Mann gerettet werden müsse oder andernfalls sterbe.