Month: April 2024
Die ganze Welt rüstet immer schneller auf

Sipri warnt vor weltweiter Militarisierung
23.04.2024
Von: Thomas Borchert
Das Stockholmer Friedensinstitut Sipri warnt vor einer Militarisierung der Politik auf allen Kontinenten.
Das Bild ist alarmierend: Weltweit nimmt die Militarisierung der Politik zu; das belegen die jüngsten Zahlen des Friedensforschungsinstituts Sipri in Stockholm. Für seine „Trends bei weltweiten Militärausgaben“ ermittelt Sipri, dass Ausgaben 2023 ausnahmslos auf allen Kontinenten gestiegen sind. Mit durchschnittlich 6,8 Prozent plus haben die Rüstungshaushalte einen nie zuvor von Sipri gemessenen Höchststand von 2,443 Billionen Dollar erreicht. Das entspricht 306 Dollar pro Mensch auf der Erde und 6,9 Prozent sämtlicher Staatsausgaben.
Wenig überraschend ragen mit hohen Steigerungsraten in den Sipri-Listen Staaten heraus, die an schon laufenden Kriegen beteiligt sind. So erhöhte Russland seine Militärausgaben 2023 um 24 Prozent auf 109 Milliarden Dollar und die Ukraine ihre um 51 Prozent auf 64,8 Milliarden Dollar. Werden Militärhilfen anderer Staaten über 35 Milliarden Dollar (davon 25,4 aus den USA) dazugerechnet, gibt die Ukraine fast genauso viel für militärische Zwecke aus wie der für den Krieg verantwortliche Kreml.
Für Israel verzeichnet Sipri unter Hinweis auf die „umfassende Offensive in Gaza als Antwort auf den Angriff der Hamas“ im letzten Oktober ein Plus bei den Militärausgaben um 24 Prozent auf 27,5 Milliarden. Israel zahlt seit dem Beginn des Krieges in Gaza monatlich 4,7 Milliarden Dollar gegenüber 1,8 Milliarden Dollar in den ersten neun Monaten für sein Militär. Im gesamten Nahen und Mittleren Osten sind die Rüstungsausgaben 2023 um neun Prozent und damit kräftiger als in den zehn voraufgegangenen Jahren gestiegen.
Nach wie vor unangefochten die Nummer eins auf der Welt sind die USA mit Gesamtausgaben von 916 Milliarden Dollar und damit 2,3 Prozent mehr als 2022. Laut Sipri ist das immer noch drei Mal so viel, wie Chinas Führung für die zweitstärkste Militärmacht der Welt mit 296 Milliarden Dollar vorhält. Aber der Abstand zwischen den beiden verringert sich: Seit drei Jahrzehnten treibt China seinen Militärhaushalt permanent nach oben, zuletzt zwischen 2014 und 2023 um 60 Prozent, in den beiden voraufgegangenen Dekaden jeweils um 150 Prozent.
Nato-Staaten: 55 Prozent der weltweiten Militärausgaben
Die Nato-Staaten zusammen standen im vergangenen Jahr für 55 Prozent der weltweiten Militärausgaben. Für Deutschland errechnete Sipri eine Steigerung 2023 um neun Prozent auf 66,8 Milliarden Dollar, was einem Anteil von 1,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) entsprach. Elf von 31 Nato-Staaten (in dieser Erhebung das letzte Mal ohne Schweden) erreichten das von der stärksten Militärallianz der Welt definierte Ziel, mindestens zwei Prozent des individuellen BIP für militärische Zwecke bereitzustellen. Polen steigerte seine Ausgaben um 75 Prozent und seit 2014 um 181 Prozent auf 31,6 Milliarden Dollar.
So wie dies als Antwort eines Nachbarn auf den russischen Krieg gegen die Ukraine verstanden wird, kennzeichnet Sipri die massive Aufrüstung der Staaten im Pazifikraum als Reaktion auf Chinas wachsenden Machtansprüchen. Japan legte 2023 um elf Prozent auf 50,2 Milliarden Dollar und Taiwan ebenfalls um elf Prozent auf 1,6 Milliarden Dollar zu. Dieser gegenseitige Trend werde sich in den kommenden Jahren fortsetzen, heißt es im Stockholmer Bericht.
Sipri-Projektleiter Nan Tian meint: „Der beispiellose Anstieg der Militärausgaben ist eine direkte Antwort auf die globale Entwertung von Frieden und Sicherheit.“ Er warnt vor den Folgen dieser Verschiebung der Wertvorstellungen: „Die Staaten riskieren damit eine Aktions- und Reaktionsspirale in einer zunehmend unsicheren geopolitischen Sicherheitslandschaft.“
Als „zunehmenden Trend“ für die Region Mittel- und Südamerika notiert das Stockholmer Institut massive Militärausgaben zur Lösung interner Konflikte. Die mexikanische Regierung gab 2023 11,8 Milliarden Dollar und damit 55 Prozent mehr für militärische Zwecke aus als 2014. Elf Prozent davon gingen an die ausschließlich zur Bekämpfung organisierter Kriminalität 2019 aufgebaute Nationalgarde. „Der Grund ist entweder die Unfähigkeit der Regierungen zur Lösung des Problems mit normalen Mitteln oder dass sie einfach schnelle gewaltsame Antworten bevorzugen,“ kommentiert Sipri-Forscher Diego Lopes da Silva.
Der kritische „Weltrekord“ bei militärischen Ausgabensteigerungen im letzten Jahr geht nach Afrika: Sipri hat ein Plus von 105 Prozent auf 794 Millionen Dollar für die Demokratische Republik Kongo ermittelt, wo die Regierung Krieg gegen interne Gegner führt und die Spannungen mit dem Nachbarn Ruanda zunehmen. Der Südsudan folgt auf dem zweiten Platz mit 78 Prozent plus auf 1,1 Milliarden Dollar. Als Hintergrund benennt Sipri neben interner Gewalt auch Rückwirkungen des Bürgerkrieges im benachbarten Sudan. Dort sind 18 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht.
Kopenhagener Wahrzeichen niedergebrannt

Entsetzen in Kopenhagen nach Brand der Alten Börse
Stand: 16.04.2024, 16:52 Uhr
Von: Thomas Borchert
Ein Feuer zerstört die Alte Börse – das 399 Jahre alte Wahrzeichen der dänischen Hauptstadt Kopenhagen stürzt teilweise ein
Das historisch beneidenswert erhaltene Zentrum von Kopenhagen hat sein vielleicht schönstes und knapp 400 Jahre altes Wahrzeichen verloren. Kurz vor dem Jahrhundert-Geburtstag der 1625 fertiggestellten Alten Börse im Herzen von Dänemarks Hauptstadt brach das Feuer während Renovierungsarbeiten unter dem Dachstuhl aus. Als am Dienstagvormittag live im Fernsehen mit anzusehen war, wie Flammen die Turmspitze mit vier ineinander verschlungenen Drachen aus 72 Meter Höhe zum Einsturz brachten, haben viele Menschen gedacht (und sogleich massenhaft gepostet); „Das ist wie Notre Dame,“ oder „Unser Notre Dame.“
Sie hatten frisch vom Vortag die Berichte zum fünften Jahrestag der Brandkatastrophe im Dachstuhl der weltberühmten Pariser Kathedrale in Erinnerung. Genau wie dort kam auch in Kopenhagen kein Mensch zu Schaden, und dass Frankreich jetzt den erfolgreichen Abschluss des Wiederaufbaus feiern kann, dürfte ebenso Trost vermitteln.
Ansonsten aber herrschte blankes Entsetzen. Sofort nach dem ersten Brandalarm bei strahlendem Sonnenschein rannten Beschäftigte von Dänemarks in der Börse untergebrachten Gewerbeverband durch das Gebäude, um möglichst viele Gemälde und andere historische Kostbarkeiten zu retten. Das scheint in hohem Maß gelungen zu sein, da die Flammen zunächst nur direkt unter dem Dach wüteten. Allerdings lieferten ihnen nach Aussage der Feuerwehr unendlich viel Holz in der Konstruktion und viele Hohlräume beste Bedingungen, um sich nach unten durchzufressen. Auch das Kupferdach, das jede Abkühlung der Brandhitze nach oben verhinderte, und die Ummantelung des Gebäudes durch ein Baugerüst mit Plastikabdeckung erschwerten die Löscharbeiten enorm.
Ein Teil dänischer Geschichte
„400 Jahre Kulturerbe stehen in Flammen,“ kommentierte der dänische Kulturminister Jakob Schmidt Engel. Die Börse, ein elegant längliches Gebäude im niederländischen Renaissance-Stil mit seiner seit 1625 weithin sichtbaren Turmspitze, ist Kopenhagens vermutlich meistfotografiertes Wahrzeichen nach der Kleinen Meerjungfrau. Sie hat fast 300 Jahre mehr geschichtliches Patina als die kleine Figur aus Hans Christian Andersens Märchenwelt am Hafenkai Langelinie, ein bisschen außerhalb.
Die Börse, direkt neben dem Parlamentssitz Schloss Christiansborg („Borgen“), steht viel stärker auch als Symbol für einen Teil der dänischen Geschichte, auf den man im Königreich gemeinhin stolz ist. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen formulierte, beim Einsturz der Turmspitze habe es ein landesweites „Aufstöhnen“ gegeben: „Das tat der dänischen Volksseele weh, weil es um hunderte Jahre unserer Geschichte geht.“
König Christian IV. (1577-1648) hatte Großmachtambitionen nach außen und wollte dazu passend seine Hauptstadt gestalten. Während er als Kriegsherr unter anderem im Dreißigjährigen Krieg wenig erfolgreich war, gilt dieser König seinen Landsleuten bis heute als wagemutiger und vielleicht erfolgreichster Baumeister aller Zeiten in Kopenhagen. Die Börse ließ er buchstäblich auf Wasser bauen. Ihr Fundament ist, wie später auch diverse benachbarte Ministerien im Regierungsviertel Slotsholmen, dem Meer abgerungen. Den Namen verdankt sie nicht Aktiengeschäften, sondern der ursprünglich hier betriebenen Lagerung und dem Handel mit Korn.
Paradoxerweise gehört zu den Besonderheiten des Baus, dass er bis jetzt von Feuer verschont geblieben war. Andernorts gab es davon reichlich in Kopenhagens Mitte. Das Gebäude mit seiner roten Ziegelfassade hat nicht nur die umfassenden Stadtbrände 1728 und 1795 unbeschadet überstanden, sondern auch verheerende Feuer nebenan auf Schloss Christiansborg 1794 und 1884. Noch in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts brannten gleich nebenan ein historisches, jetzt für das Parlament genutztes Lagergebäude und die Schlosskirche auf der anderen Seite von Christiansborg.
Als fast sicher darf angenommen werden, dass Kopenhagen – wie Paris bei Notre Dame – mit dem Wiederaufbau der Alten Börse rechnen kann. Oberbürgermeisterin Sophie Hæstorp Andersen wie auch Kulturminister Engel versprachen sofort, „alles in ihrer Macht Stehende“ dafür zu tun. Außenminister Lars Løkke Rasmussen fand schon die Frage danach „überraschend“. Er sei zwar nicht zuständig, aber: „Natürlich werden die Menschen in Kopenhagen die ikonische Turmspitze wiedersehen.“

Tesla wird seit einem halben Jahr in Schweden bestreikt

Arbeitskampf bei Tesla: Wie schwedische Mechaniker Musk in die Knie zwingen wollen
12.04.2024
Von: Thomas Borchert
Gewerkschaften in Schweden kämpfen für einen Tarifvertrag beim E-Autobauer Tesla. Dessen Chef Elon Musk ist davon nicht begeistert.
Dass vierzig Automechaniker und -mechanikerinnen in schwedischen Tesla-Werkstätten den reichsten Mann der Welt in die Knie zwingen können, klingt unwahrscheinlich. Auf jeden Fall aber hat ihr knapp halbjähriger Streik zur Erzwingung eines Tarifvertrags Elon Musk zu einem öffentlichen Wutausbruch getrieben. „Das ist verrückt“, schrieb der Chef von weltweit 130 000 Tesla-Beschäftigten auf dem Twitter-Nachfolger X, als mehrere Gewerkschaften in Schweden Sympathieaktionen gestartet hatten. Zum Beispiel indem sie die Entladung von Teslas in heimischen Häfen blockierten. „Ich glaube, der Sturm hat uns passiert,“ beruhigte er sich dann selbst diese Woche in einem Podcast und meinte, Tesla in Schweden sei in „einigermaßen guter Verfassung“.
Elon Musk verabscheut Gewerkschaften und Tarifverträge
Nach wie vor stehen Streikwachen vor elf Tesla-Servicecentern. Marie Nilsson, Vorsitzende der Gewerkschaft IF Metall, hat diesen kleinen, aber inzwischen längsten Arbeitskampf in ihrem Land seit 80 Jahren gerade erst wieder zu einem „historischen Kräftemessen zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern“ hochgeredet: „Jetzt ist wichtiger denn je, dass wir zusammenhalten und dass wir durchhalten.“
Dass Musk Gewerkschaften verabscheut und Tarifverträge verweigert, wissen auch die mehr als 10 000 Tesla-Beschäftigten im brandenburgischen Grünheide. Nach der Betriebsratswahl im März freute sich Werksleiter André Thierig auf: „Unsere Belegschaft hat sich mehrheitlich gegen einen gewerkschaftlichen Betriebsrat ausgesprochen.“ Die IG Metall, die jetzt 16 von 39 Betriebsratsmitgliedern stellt, hatte im Wahlprogramm die Forderung nach einem Tarifvertrag erst schüchtern als letzten Punkt aufgeführt, wie ein Fernziel für bessere Zeiten mit mehr Organisierten.
In Schweden sind knapp 70 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, Tarifverträge decken sogar 90 Prozent aller Jobs ab. Auch hier aber beschreiten immer mehr junge Unternehmen mit Weltnamen wie Uber und Amazon an der Spitze denselben tariflosen Weg wie Tesla. Mit weniger Lohn, härteren Arbeitsbedingungen und geringerer Arbeitsplatzsicherheit, versteht sich.
Streikende werden von Tesla schikaniert
Vor diesem Hintergrund ist der am 27. Oktober gestartete Streik für ein paar wenige Tesla-Beschäftigte zum Grundsatzstreit für die Verteidigung des „Schwedischen Modells“ angewachsen. Musk hat ihn als „verrückt“ und „Sturm“ wahrgenommen wegen der erfindungsreichen Sympathieaktionen nicht direkt berührter Gewerkschaften. Neben der Blockade durch Hafenarbeiter:innen (auch in den skandinavischen Nachbarländern) stoppte die Postgewerkschaft alle an Tesla adressierten Lieferungen. Aus Servicecentern wird kein Müll mehr abgeholt, und gewerkschaftlich organisierte Elektriker:innen wollten keine Tesla-Ladestationen mehr warten oder neu installieren.
Zusätzlich in Rage versetzt hat die Arbeitnehmerseite, dass Tesla für die am Streik beteiligten Mechaniker:innen Ersatzarbeitskräfte in die Werkstätten schleusen ließ. Das habe es seit einem Grundsatzübereinkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern 1938 in Schweden nicht einmal gegeben. Allerdings gehört zur vorläufigen Bilanz auch, dass die Streikwachen an den Werkstoren nie auch nur einen Streikbrecher oder eine Streikbrecherin an der Arbeit hindern konnten. Tesla hat seine Verkaufszahlen in den letzten Monaten stabil gehalten und den Transport von Neuwagen erfolgreich vom Seeweg auf Lkw umgestellt. Von Beginn an beteiligen sich von 120 betroffenen Tesla-Mechanikern und -Mechanikerinnen auch nur 40 am Streik.
So war vielleicht als erste Weichenstellung für eine weiche und zugleich gesichtswahrende Landung Mitte der Woche im Gewerkschaftsblatt „Arbetet“ von mehreren „Geheimtreffen“ zwischen IF Metall und Tesla zu lesen. Eigentlich handelte es sich dabei um gesetzlich zwingend vorgeschriebene Mitbestimmungssitzungen im Betrieb, ohne Bezug zum Tarifstreit. Aber Metallgewerkschafter Karl-Henrik Rosberg aus Göteborg ließ sich mit dem Eindruck zitieren, das „Verhandlungsklima“ sei prima gewesen. Und: „Wir wollten Tesla zeigen, dass wir gute Beziehungen wünschen und dass wir nicht gefährlich sind.“
Der Nobelpreis für Heinrich Böll: Ein Hinterzimmer-Deal
Warum Heinrich Böll 1972 den Nobelpreis erhielt und Günter Grass warten musste
Stand: 04.04.2024
Von: Thomas Borchert
Bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente beleuchten Stockholmer Hinterzimmer-Deals beim begehrtesten aller Literaturpreise.
Wie, ich allein, und nicht der Grass auch?“ Heinrich Bölls flapsige erste Reaktion auf den Nobelpreis für Literatur im Herbst 1972 erweist sich jetzt als Kommentar eines wohl vorab, aber doch nur halb Eingeweihten. Bisher geheime Dokumente der Schwedischen Akademie zeigen jetzt, dass die Jury tatsächlich bis fünf vor zwölf eine gemeinsame Auszeichnung für beide ganz oben auf ihrer Liste hatte.
Grass musste sich aber bekanntermaßen noch einmal 27 Jahre gedulden, bis auch er im Frack und mit tiefer Verbeugung den größten aller Literaturpreise vom schwedischen König in Empfang nehmen durfte. Dass ihn die lange Wartezeit hart ankam, deutet auch Grass’ erster Satz 1999 zur Vergabe an ihn an: „Dieser Preis ist eine große Genugtuung für mich.“ Er habe sich „spontan“ gefragt, was wohl Heinrich Böll sagen würde: „Ich habe das Gefühl, er wäre damit einverstanden gewesen.“
Warum ihm die Genugtuung gerade in diesem Jahr zuteil wurde, wird man erst 2050 einsehen können, weil Vorschlagslisten, literarische Gutachten und interne Pro&Contra-Schreiben vor einer Preisvergabe stets fünf Jahrzehnte unter Verschluss bleiben. Für 1972 ist die Frist abgelaufen, und eine unscheinbare gelbe Mappe mit handschriftlich „Heinrich Böll“ vorne drauf liefert faszinierende, mitunter erheiternde Einblicke in das Hin und Her um Böll solo oder Böll & Grass. Sie machen auch klar, dass die maßgeblichen Akademie-Herren (eine Dame gab es hier noch lange nicht) Böll vor allem auszeichneten, weil sie sich um den regionalen Proporz Sorgen machten.
„Künstlerisch findet das Komitee andere Namen besser als die auf der Liste ganz oben,“ schrieb Karl Ragnar Gierow, damals „Ständiger Sekretär“ der Schwedischen Akademie, zu Böll und Grass. Eigentlich würde er lieber den Italiener Eugenio Montales auszeichnen (der 1975 den Zuschlag bekam). Aber: „Es kann nicht geleugnet werden, dass es wohltuend für das Balancegefühl wäre, wenn die Möglichkeit für einen deutschen Nobelpreis diesmal ausprobiert werden würde.“ Man sei „zu lange“ an Deutschland „vorbeigegangen“.
Bei höflichem Lob für „Gruppenbild mit Dame“ als Bölls „bisher repräsentativstem Werk“ tadelt Gierow dessen „aufdringliche Manierismen“ und, verschwurbelt auch im schwedischen Original, die „zu einem gewissen deutschen Literaturjargon gehörende Neigung zu maschinenartig ausgeführten Travestien“ (sic). Begeisterung für einen Nobelpreiskandidaten stellt man sich anders vor. Gierow setzt noch einen drauf: „In Herz und Seele finde ich, dass weder Böll noch Grass so unbeschwert eine so vollkommenes Werk zustandegebracht haben wie Siegfried Lenz mit seiner ‚Deutschstunde‘.“ Die allein reiche aber nicht als Grundlage für einen Nobelpreis.
Lars Gyllensten, ebenfalls Mitglied im fünfköpfigen Komitee, einer Art Politbüro zur Weichenstellung für die finale Abstimmung aller 18 Akademie-Mitglieder, findet auch ausschlaggebend, dass „die deutsche Literatur im Nobelzusammenhang als unterrepräsentiert angesehen werden kann“. Penibel rechnet er vor, dass von insgesamt sechs bis dato deutschsprachig Ausgezeichneten zwei Schweizer gewesen seien (u.a. Hermann Hesse 1946). Zwei hätten keine Belletristik produziert (Theodor Mommsen 1902 und Rudolf Eucken 1908). Die vor den Nazis nach Schweden geflüchtete Nelly Sachs (1966) könne man wohl kaum zu den „rikstyskarna“ („Reichsdeutschen“), also Ausgezeichneten mit deutschem Pass, zählen.
„Nelly Sachs am nächsten kam Thomas Mann“, setzt Gyllensten seine Erbsenzählerei fort und meint wohl einfach, dass es zwischen Mann 1929 und Sachs 47 Jahre später keinen Nobelpreis für deutschsprachige Literatur gegeben habe. Diese Rechnung wenigstens stimmt, Gyllenstens Ermittlung sechs deutschsprachiger Ausgezeichneter dagegen nicht. Es gab sieben – der Juror hatte Gerhart Hauptmann (1912) übersehen.
Als glänzend gelungenen Neustart nach Kriegsende lobt Gyllensten die Gruppe 47: „Die deutsche Nachkriegsliteratur ist jetzt ausgesprochen reich und voller Abwechslung.“ Böll und Grass seien von Beginn an dabei gewesen sowie international als „die herausragenden Autoren“ aus diesem Kreis anerkannt. Dass die (bundes-)deutsche Literatur jetzt wieder sprudele, treibt den Nobeljuror zu sportlichen Abwägungen wie beim Windhundrennen: Jüngere Autoren wie Lenz und auch Peter Weiss seien als „eventuelle Konkurrenten“ für das Duo Böll & Grass einzustufen. Man könne letzteres „jetzt oder sehr bald“ auszeichnen. Oder: „Man wartet so lange, bis sie (die jüngeren) beide Deutschen dieses Jahres abgehängt haben.“
Herausragend findet Gyllensten den maßgeblichen Anteil der Top-Kandidaten beim „mutigen Einsatz der deutschen Literatur zur Abrechnung mit der Nazi-Vergangenheit und ihren Überbleibseln“. Das hatte seinen Preis: „Beide sind Gemeinheiten und Verfolgungen vor allem von der Springer-Presse, ausgesetzt gewesen, wenn sie publizistisch zu aktuellen und kontroversen politischen Streitfragen Stellung bezogen haben.“ Sie seien „politisch links, aber nicht sehr weit in diese Richtung“ zu verorten, was vor allem Grass seine Vaterrolle bei „jüngeren und mehr extrem radikalen Autoren“ gekostet habe.
Gyllensten selbst nahm politisch kontrovers Stellung, als er die Schwedische Akademie 1987 aus Protest gegen deren jämmerliches Schweigen zur Fatwa gegen Salman Rushdie verließ. Seine rein literarisches Verhältnis zur Böll und Grass fiel 1972 zwiespältig aus. Neben Anerkennung für Bölls kürzere Satiren und die Frühwerke „Blechtrommel“ sowie „Hundejahre“ aus der Feder von Grass setzt es harte Kritik. Zu Böll meint er, dass „die größeren Romane mitunter lange, unkonzentrierte, langweilige, ja sogar mechanische, tote Strecken enthalten“. Der 1972 aktuelle Grass-Roman („Örtlich betäubt“) „reicht nicht an die beiden früheren Romane heran und wird nach meiner Meinung von pädagogischer Überdeutlichkeit geprägt, die oft ermüdend und trocken daherkommt.“
Aber: „In seinen besten Augenblicken erreicht er ein höheres Niveau als seine deutschen Kollegen inklusive Böll.“ Beide seien zwar „Realisten mit Stärken im Anschaulichen und psychologischen Einleben“, aber „ohne sonderlich beachtenswertes Tieferbohren.“ Gyllensten spricht sich für eine Vergabe an beide aus.
Unverhohlener äußert sich als drittes Komiteemitglied Artur Lundkvist. Zu „Örtlich betäubt“ schreibt er: „Nach Grass’ neuem Buch sind seine Aktien beträchtlich gefallen. Es sieht so aus, als könne man seinen Namen streichen.“ Böll findet er insgesamt „zu schwach“ für einen Solo-Preis, er hat für ihn nichts mit „eindeutig meisterlichem Niveau“ geschrieben. Im Gegenteil: „Man kommt bei ihm nicht an einer gewissen Fertigkeit zum Glätten bis hin zu einer Art Opportunismus vorbei.“ Trotz aller Bedenken sei er bereit, für Böll zu stimmen „mit dem Gedanken an die deutsche Nachkriegsliteratur in ihrer Gesamtheit, vorausgesetzt es findet sich keine bessere Alternative.“
Bis zur letzten Abstimmung unter allen 18 Akademiemitgliedern grübelten die fünf maßgeblichen über eine Entscheidung für das Duo oder alternativ allein für Böll. „Der Eindruck eines geteilten Preises kann leicht werden, dass keiner der Preisträger den ganzen wert ist“, warnte Gierow. Als Befürworter der Tandem-Lösung widersprach ihm Gyllensten, kurioserweise mit genau demselben kritischen Blick auf Böll und Grass: „Ein geteilter Nobelpreis ist wohl an seinem Platz, insbesondere weil gewisse Bedenken gegen beide jeweils für sich ihre Berechtigung haben.“
Warum es dann doch zum alleinigen Preis für den älteren der beiden kam, ist der gelben Mappe nicht zu entnehmen. Der Literaturwissenschaftler Paulus Tiozzo vermutet eine generell in der Akademie verbreiteten Abneigung gegen doppelte Vergaben, weil sie „als eine Art Abwertung des Literaturnobelpreises verstanden wurde“. Tiozzo hat für seine Dissertation „Der Nobelpreis und die deutschsprachige Literatur“ (Göteborg 2022) die internen Komitee-Unterlagen zu allen deutschsprachig Ausgezeichneten und Nominierten 1901–1971 durchforstet. Auch in den 60er Jahren ging es schon kräftig um Grass und Böll als Kandidaten. „Vor allem erscheint sich Grass’ politisches Engagement noch nachteilig für ihn ausgewirkt zu haben“, meint Tiozzo. Beim allseits auch in Schweden beliebten Böll habe man sich „sicherer vor politisch motivierter Kritik gefühlt“.
Auch das ist nur eine Vermutung. Sein Studium der Komitee-Dokumente aus 70 Jahren fasst Tiozzo so zusammen: „Man könnte sagen, dass sie den Literaturnobelpreis entmystifizieren. Denn hinter all dem Prunk und dem Mythos, die von der Schwedischen Akademie selbst und den Medien aufrechterhalten werden, zeigen sie, dass der Kern des Literaturnobelpreises mehr oder weniger aus den Kompromissen eines dubiosen Kreises besteht.“ Hinterzimmer-Deals also.