Migrations-Vorbild Dänemark? – “Lass die Finger davon, Deutschland!”

Dänemarks Migrationspolitik: Hauptsache unattraktiv
Stand: 02.11.2023, 17:16 Uhr
Von: Thomas Borchert
In Deutschland werden die Forderungen laut, sich in Sachen Migration am strikten nordischen Nachbarn Dänemark zu orientieren. Unser Korrespondent Thomas Borchert lebt dort – und warnt: Lasst die Finger davon! Ein Plädoyer.
Jetzt soll also die dänische Zuwanderungspolitik Leitstern für Deutschland sein. In meinen Jahrzehnten als zugewanderter Korrespondent war schon des Öfteren zu erklären, ob wirklich und eventuell warum alles so toll funktioniert im sympathischen Dänemark: Ein intakter Wohlfahrtsstaat mit blühendem Arbeitsmarkt und sozialem Frieden, seit einem halben Jahrhundert ausreichend Kitaplätze für die Job-Sicherheit junger Mütter, die rasante Digitalisierung, und dann die Sache mit der allgegenwärtigen Gemütlichkeit namens „Hygge“ beim glücklichsten Volk der Welt. Im Alltag hier gefällt mir das ja auch alles. Fast alles.
Spätestens seit den jüngsten AfD-Wahlerfolgen in Deutschland hat sich in Talkshows, Tweets, Parteitagsreden und Leitartikeln das Narrativ von der dank Härte erfolgreich begrenzten Zuwanderung durchgesetzt. Dänemark habe gezeigt, dass „nationale Lösungen möglich sind“, findet Sahra Wagenknecht. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel empfiehlt schon länger, für Geflüchtete das „Sozialsystem, wie in Dänemark, unattraktiver zu machen“. Friedrich Merz lobt fast täglich die „konsequente dänische Flüchtlingspolitik“, seine CDU verlangt Abschiebezentren „nach dänischem Vorbild“. Altbundespräsident Joachim Gauck zieht den Hut, weil es Kopenhagen mit Zuwanderungs-Härte gelungen sei, „eine nationalpopulistische Partei unter drei Prozent zu bringen“. Im Deutschlandfunk hörte ich einen ob überfüllter Turnhallen verzweifelten Kommunalpolitiker laut grübeln: Die Dänen hätten doch die Flüchtlingszahlen heruntergebracht, „ohne die Menschenrechte preiszugeben.“
Zumindest die Zahlen geben ihm recht. 2022 beantragten an der dänischen Grenze 4597 Menschen Asyl, davon 2070 aus der Ukraine. In Deutschland waren es 244 132 – plus 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge. Pro Kopf der Bevölkerung wird Dänemark in der EU nur von Rumänien, Lettland, Litauen und Polen unterboten. Als Beweis für den Erfolg ihrer „strammen Ausländerpolitik“ wertet die Regierung auch, dass sich nur noch 500 Ausreisepflichtige im Land aufhalten.
Dänemarks Asylpolitik sollte kein Vorbild sein
Bei meiner 99- jährigen Freundin Ulla im Kopenhagener Altenheim fällt mir jedes Mal auf, dass das Personal praktisch ausschließlich aus „nicht-westlichen“ Zugewanderten besteht. Zu dieser in der dänischen Statistik gesondert aufgeführten Gruppe (politisch verwendet als Synonym für „unerwünscht“) gehört auch mein junger Bekannter Akil aus Somalia. Mit besten Dänischkenntnissen ausgebildet als Pflegekraft und begeistert vom ersten Job, wurde ihm plötzlich die Aufenthaltsgenehmigung und damit auch die Arbeitserlaubnis entzogen: Man werde ihn jetzt „heimschicken“, weil ein Teil Somalias wieder sicher sei.
Nach dem Verhör bei der Ausländerbehörde, mit mir als Beisitzer, war für Akil klar, dass er aus seiner Wohnung ausziehen und in einem der von CDU-Chef Merz gewünschten „Ausreisezentren“ demnächst mit Frau und dem gerade geborenen Kind auf die Abschiebung würde warten müssen. Vor ein paar Jahren verschwand die Familie spurlos. Jetzt habe ich Akil per Messenger erreicht und gefragt, wo er lebt und wie es ihm geht: „Gut“, antwortet er auf Deutsch. Die Familie wohnt in einem Landkreis in Hessen, Akil hat Arbeit in einer Fabrik, schreibt er.
Seine Geschichte hat ihren Reiz als Kommentar zu Wagenknechts Lob für Dänemark: Das Land zeige, dass „nationale Lösungen möglich sind“. Stimmt, denn Kopenhagen geht seinen stramm nationalen Weg zulasten anderer EU-Länder. Nach Angaben von „Refugees Welcome“ sind in drei Jahren 419 der 653 Menschen, die zur Abschiebung zwangsweise im Ausreisecenter Kærshovedgård leben, auf diese Weise aus Dänemark weggeblieben.
Bei der Aufnahme verweigert Dänemark ohnehin jede Beteiligung an EU-Schlüsseln zur Verteilung von Flüchtlingen. Als Minister für Immigration und Integration sagte der inzwischen ins Schulressort gewechselte Sozialdemokrat Mattias Tesfaye: „Unser Ziel heißt null Asylbewerber.“
Er bestätigt, was sein Parteifreund Gabriel für Deutschland empfiehlt: „Die Asylzahlen sind bei uns so markant gesunken, weil wir mit unserer harten Ausländerpolitik ein weniger attraktives Ziel geworden sind.“ Gerade erst hat die Regierung eine auf Flüchtlinge zugeschnittene Arbeitspflicht für Sozialhilfe-Empfänger durchgesetzt und die Sätze für nicht arbeitsfähige Menschen halbiert. Im Nachgang des dänischen „Ghettopakets“ von 2018 steht im Stadtteil Bispehaven in Aarhus der Abriss moderner Wohnblöcke bevor, um den hohen nicht-westlichen Anteil der Bewohner:innen zu senken. Genau wie im von Wohnungsnot geplagten Kopenhagen und etlichen anderen Städten
Als ehemaliger Immigrationsminister muss Tesfaye dazu nicht mehr Stellung beziehen und hat seinen Ressortwechsel erklärt: „Man kann das nur eine Zeit lang machen, sondern gehst du daran als Mensch kaputt. Dann wirst du wie Gollum.“ Mit diesem traurigen, immer seltsamer werdenden Hobbit aus „Herr der Ringe“ wollte am Ende niemand mehr zu tun haben. Vielleicht hat Tesfaye auch die Ministerreise nach Ruanda zugesetzt, wo über die von Kopenhagen gewünschte Deportation aller Asylbewerber:innen dorthin verhandelt wurde.
„Negatives Branding“ um sich für Flüchtlinge unattraktiv zu machen
Diese strammen Pläne sind Teil eines „negativen Brandings“ für Dänemark und sollen Flüchtlinge dazu veranlassen, doch lieber ein Nachbarland anzusteuern. „Wenn sich jetzt auch andere dazu entschließen, wird’s natürlich schwieriger. Dann haben wir einen endlosen Wettlauf nach unten zwischen allen,“ sagt Michala Clante Bendixen von „Refugees Welcome“ über den deutschen Wunsch, Dänemark nachzueifern. Als bisher krassesten Auswuchs empfindet sie den 2019 verkündeten „Paradigmenwechsel“. Seither gilt als oberstes Ziel der dänischen Flüchtlingspolitik nicht mehr die Integration hier gelandeter Menschen, sondern deren „Heimsendung“: „Obwohl die Verantwortlichen genau wissen, dass all die Flüchtlinge aus Iran, Irak, Afghanistan, Syrien und Somalia letztlich bleiben werden, verkünden sie als Ziel das Gegenteil.“ Damit mache man sämtliche im dänischen Alltag höchst erfolgreichen Integrationsbemühungen kaputt. Tatsächlich sehen Statistiken etwa zum Bildungsaufstieg von Mädchen und jungen Frauen aus Flüchtlingsfamilien beeindruckend aus.
Aber das „negative nationale Branding“ als politische Triebkraft verlangt immer neuen Brennstoff. Wie das über viele Jahre funktioniert hat, bezeugt Ex-Premier Lars Løkke Rasmussen, inzwischen Außenminister in der großen Koalition: Er habe in falscher Abhängigkeit von den ausländerfeindlichen Rechtspopulisten zu deren Diensten Symbolpolitik betrieben. Als Beispiel nennt und bereut er das weltweit berüchtigte „Schmuckgesetz“, als 2015 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auch in Dänemark ankamen: Sie sollten auf Schmuck gefilzt werden und diesen als Anzahlung auf die Kosten ihres Asylverfahrens abgeben. Es wurde fast nie angewendet, machte sich aber bestens für Schlagzeilen. Als Abschreckung.
Umgekehrt finden auch heimische Kritiker:innen der seit 20 Jahren schärfer werdenden Migrationspolitik manche Maßnahmen sinnvoll. Bendixen ist heute Befürworterin der Zwangsverteilung von Flüchtlingen auf die Kommunen: „Ich war zuerst total dagegen, sehe aber jetzt, dass dies den Betroffenen zu einer besseren Aufnahme außerhalb der Ballungszentren und den nicht so zentralen Orten zu einem besseren Verhältnis zu Flüchtlingen verholfen hat.“ Ich selbst war 2002 empört über das Verbot von Familiennachzug per Heirat für unter 24- Jährige, eine Verletzung von Menschenrechten. Heute erkenne ich an, dass sich dadurch einige junge Frauen besser gegen früh von ihren Familien arrangierten Ehen behaupten können und bessere Ausbildungs- und Berufschancen bekommen haben.
Bei den Wahlen 2015 kletterten die Rechtspopulisten der Dänischen Volkspartei auf 21,1 Prozent als zweitgrößte Partei im kleinen Königreich. 2022 stürzten sie vor allem deshalb auf nur 2,7 Prozent ab, weil die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen der Wählerschaft versprach in der Zuwanderungspolitik mindestens genauso hart aufzutreten wie die Rechtspopulisten.
Dieses Modell empfiehlt nun Gauck als Bremsklotz gegen die AfD. Nach persönlichen Erfahrungen kann ich nur von ganzem Herzen sagen: Lass die Finger davon, Deutschland! Als Bewerber um die dänische Staatsbürgerschaft 2018 konnte ich kaum glauben, zu welch groteskem Verlust demokratischer und rechtsstaatlicher Werte diese Prinzip geführt hat: Wir schlagen die Populisten, indem wir selbst so werden.
Die dänische Sozialdemokratie akzeptiert bei Einbürgerungen, dass Abgeordnete im Parlamentsausschuss Kandidat:innen wegen ihres arabischen Namens abweisen. Sie hat zusammen mit den offen rassistisch Rechten beschlossen, dass in Dänemark geborene und aufgewachsene Nachkommen von Zuwandererfamilien nach ihrem 18. Geburtstag juristisch wie frisch ins Land gekommene Fremde behandelt werden. Diese komplett integrierten jungen Leute, die nie woanders gelebt haben, müssen als Volljährige erst mal eine permanente Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Beim Antrag auf die dänische Staatsbürgerschaft sind dann noch 3,5 Jahre Vollbeschäftigung nachzuweisen. Ausbildung zählt nicht. Damit werden gerade die im Studium Erfolgreichsten unter ihnen im Geburtsland zu Bürger:innen zweiter Klasse degradiert.
Das ist vollkommen irre, finden längst auch Wirtschaftsvertreter:innen, die niemand für moralisierende Gutmenschen hält. Einen „Paradigmenwechsel“ für die massive Anwerbung von Arbeitskräften, etwa für den Pflegesektor, aus Ländern wie Jordanien, Tunesien und Kenia verlangt Brian Mikkelsen vom Gewerbeverband. Klingt alles ziemlich nicht-westlich, genau wie die Herkunftsländer der aus ihren Arbeitsplätzen weggerissenen Zuwanderer aus Syrien und Somalia. Mikkelsen, in früheren Regierungen einst Minister und „Wertekrieger“ an vorderster Front gegen unerwünschte Zuwanderung, warnt jetzt, sein Land dürfe sich nicht als „kleine Stammeskultur“ einigeln. Für den dänischen Kampf gegen Nachwuchs- und Arbeitskräftemangel hat er auch ein Vorbild: „Ein Land wie Deutschland hat das längst erkannt und handelt danach.“