Der Nobelpreis für Heinrich Böll: Ein Hinterzimmer-Deal

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Warum Heinrich Böll 1972 den Nobelpreis erhielt und Günter Grass warten musste

Stand: 04.04.2024

Von: Thomas Borchert

Bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente beleuchten Stockholmer Hinterzimmer-Deals beim begehrtesten aller Literaturpreise.

Wie, ich allein, und nicht der Grass auch?“ Heinrich Bölls flapsige erste Reaktion auf den Nobelpreis für Literatur im Herbst 1972 erweist sich jetzt als Kommentar eines wohl vorab, aber doch nur halb Eingeweihten. Bisher geheime Dokumente der Schwedischen Akademie zeigen jetzt, dass die Jury tatsächlich bis fünf vor zwölf eine gemeinsame Auszeichnung für beide ganz oben auf ihrer Liste hatte.

Grass musste sich aber bekanntermaßen noch einmal 27 Jahre gedulden, bis auch er im Frack und mit tiefer Verbeugung den größten aller Literaturpreise vom schwedischen König in Empfang nehmen durfte. Dass ihn die lange Wartezeit hart ankam, deutet auch Grass’ erster Satz 1999 zur Vergabe an ihn an: „Dieser Preis ist eine große Genugtuung für mich.“ Er habe sich „spontan“ gefragt, was wohl Heinrich Böll sagen würde: „Ich habe das Gefühl, er wäre damit einverstanden gewesen.“

Warum ihm die Genugtuung gerade in diesem Jahr zuteil wurde, wird man erst 2050 einsehen können, weil Vorschlagslisten, literarische Gutachten und interne Pro&Contra-Schreiben vor einer Preisvergabe stets fünf Jahrzehnte unter Verschluss bleiben. Für 1972 ist die Frist abgelaufen, und eine unscheinbare gelbe Mappe mit handschriftlich „Heinrich Böll“ vorne drauf liefert faszinierende, mitunter erheiternde Einblicke in das Hin und Her um Böll solo oder Böll & Grass. Sie machen auch klar, dass die maßgeblichen Akademie-Herren (eine Dame gab es hier noch lange nicht) Böll vor allem auszeichneten, weil sie sich um den regionalen Proporz Sorgen machten.

„Künstlerisch findet das Komitee andere Namen besser als die auf der Liste ganz oben,“ schrieb Karl Ragnar Gierow, damals „Ständiger Sekretär“ der Schwedischen Akademie, zu Böll und Grass. Eigentlich würde er lieber den Italiener Eugenio Montales auszeichnen (der 1975 den Zuschlag bekam). Aber: „Es kann nicht geleugnet werden, dass es wohltuend für das Balancegefühl wäre, wenn die Möglichkeit für einen deutschen Nobelpreis diesmal ausprobiert werden würde.“ Man sei „zu lange“ an Deutschland „vorbeigegangen“.

Bei höflichem Lob für „Gruppenbild mit Dame“ als Bölls „bisher repräsentativstem Werk“ tadelt Gierow dessen „aufdringliche Manierismen“ und, verschwurbelt auch im schwedischen Original, die „zu einem gewissen deutschen Literaturjargon gehörende Neigung zu maschinenartig ausgeführten Travestien“ (sic). Begeisterung für einen Nobelpreiskandidaten stellt man sich anders vor. Gierow setzt noch einen drauf: „In Herz und Seele finde ich, dass weder Böll noch Grass so unbeschwert eine so vollkommenes Werk zustandegebracht haben wie Siegfried Lenz mit seiner ‚Deutschstunde‘.“ Die allein reiche aber nicht als Grundlage für einen Nobelpreis.

Lars Gyllensten, ebenfalls Mitglied im fünfköpfigen Komitee, einer Art Politbüro zur Weichenstellung für die finale Abstimmung aller 18 Akademie-Mitglieder, findet auch ausschlaggebend, dass „die deutsche Literatur im Nobelzusammenhang als unterrepräsentiert angesehen werden kann“. Penibel rechnet er vor, dass von insgesamt sechs bis dato deutschsprachig Ausgezeichneten zwei Schweizer gewesen seien (u.a. Hermann Hesse 1946). Zwei hätten keine Belletristik produziert (Theodor Mommsen 1902 und Rudolf Eucken 1908). Die vor den Nazis nach Schweden geflüchtete Nelly Sachs (1966) könne man wohl kaum zu den „rikstyskarna“ („Reichsdeutschen“), also Ausgezeichneten mit deutschem Pass, zählen.

„Nelly Sachs am nächsten kam Thomas Mann“, setzt Gyllensten seine Erbsenzählerei fort und meint wohl einfach, dass es zwischen Mann 1929 und Sachs 47 Jahre später keinen Nobelpreis für deutschsprachige Literatur gegeben habe. Diese Rechnung wenigstens stimmt, Gyllenstens Ermittlung sechs deutschsprachiger Ausgezeichneter dagegen nicht. Es gab sieben – der Juror hatte Gerhart Hauptmann (1912) übersehen.

Als glänzend gelungenen Neustart nach Kriegsende lobt Gyllensten die Gruppe 47: „Die deutsche Nachkriegsliteratur ist jetzt ausgesprochen reich und voller Abwechslung.“ Böll und Grass seien von Beginn an dabei gewesen sowie international als „die herausragenden Autoren“ aus diesem Kreis anerkannt. Dass die (bundes-)deutsche Literatur jetzt wieder sprudele, treibt den Nobeljuror zu sportlichen Abwägungen wie beim Windhundrennen: Jüngere Autoren wie Lenz und auch Peter Weiss seien als „eventuelle Konkurrenten“ für das Duo Böll & Grass einzustufen. Man könne letzteres „jetzt oder sehr bald“ auszeichnen. Oder: „Man wartet so lange, bis sie (die jüngeren) beide Deutschen dieses Jahres abgehängt haben.“

Herausragend findet Gyllensten den maßgeblichen Anteil der Top-Kandidaten beim „mutigen Einsatz der deutschen Literatur zur Abrechnung mit der Nazi-Vergangenheit und ihren Überbleibseln“. Das hatte seinen Preis: „Beide sind Gemeinheiten und Verfolgungen vor allem von der Springer-Presse, ausgesetzt gewesen, wenn sie publizistisch zu aktuellen und kontroversen politischen Streitfragen Stellung bezogen haben.“ Sie seien „politisch links, aber nicht sehr weit in diese Richtung“ zu verorten, was vor allem Grass seine Vaterrolle bei „jüngeren und mehr extrem radikalen Autoren“ gekostet habe.

Gyllensten selbst nahm politisch kontrovers Stellung, als er die Schwedische Akademie 1987 aus Protest gegen deren jämmerliches Schweigen zur Fatwa gegen Salman Rushdie verließ. Seine rein literarisches Verhältnis zur Böll und Grass fiel 1972 zwiespältig aus. Neben Anerkennung für Bölls kürzere Satiren und die Frühwerke „Blechtrommel“ sowie „Hundejahre“ aus der Feder von Grass setzt es harte Kritik. Zu Böll meint er, dass „die größeren Romane mitunter lange, unkonzentrierte, langweilige, ja sogar mechanische, tote Strecken enthalten“. Der 1972 aktuelle Grass-Roman („Örtlich betäubt“) „reicht nicht an die beiden früheren Romane heran und wird nach meiner Meinung von pädagogischer Überdeutlichkeit geprägt, die oft ermüdend und trocken daherkommt.“

Aber: „In seinen besten Augenblicken erreicht er ein höheres Niveau als seine deutschen Kollegen inklusive Böll.“ Beide seien zwar „Realisten mit Stärken im Anschaulichen und psychologischen Einleben“, aber „ohne sonderlich beachtenswertes Tieferbohren.“ Gyllensten spricht sich für eine Vergabe an beide aus.

Unverhohlener äußert sich als drittes Komiteemitglied Artur Lundkvist. Zu „Örtlich betäubt“ schreibt er: „Nach Grass’ neuem Buch sind seine Aktien beträchtlich gefallen. Es sieht so aus, als könne man seinen Namen streichen.“ Böll findet er insgesamt „zu schwach“ für einen Solo-Preis, er hat für ihn nichts mit „eindeutig meisterlichem Niveau“ geschrieben. Im Gegenteil: „Man kommt bei ihm nicht an einer gewissen Fertigkeit zum Glätten bis hin zu einer Art Opportunismus vorbei.“ Trotz aller Bedenken sei er bereit, für Böll zu stimmen „mit dem Gedanken an die deutsche Nachkriegsliteratur in ihrer Gesamtheit, vorausgesetzt es findet sich keine bessere Alternative.“

Bis zur letzten Abstimmung unter allen 18 Akademiemitgliedern grübelten die fünf maßgeblichen über eine Entscheidung für das Duo oder alternativ allein für Böll. „Der Eindruck eines geteilten Preises kann leicht werden, dass keiner der Preisträger den ganzen wert ist“, warnte Gierow. Als Befürworter der Tandem-Lösung widersprach ihm Gyllensten, kurioserweise mit genau demselben kritischen Blick auf Böll und Grass: „Ein geteilter Nobelpreis ist wohl an seinem Platz, insbesondere weil gewisse Bedenken gegen beide jeweils für sich ihre Berechtigung haben.“

Warum es dann doch zum alleinigen Preis für den älteren der beiden kam, ist der gelben Mappe nicht zu entnehmen. Der Literaturwissenschaftler Paulus Tiozzo vermutet eine generell in der Akademie verbreiteten Abneigung gegen doppelte Vergaben, weil sie „als eine Art Abwertung des Literaturnobelpreises verstanden wurde“. Tiozzo hat für seine Dissertation „Der Nobelpreis und die deutschsprachige Literatur“ (Göteborg 2022) die internen Komitee-Unterlagen zu allen deutschsprachig Ausgezeichneten und Nominierten 1901–1971 durchforstet. Auch in den 60er Jahren ging es schon kräftig um Grass und Böll als Kandidaten. „Vor allem erscheint sich Grass’ politisches Engagement noch nachteilig für ihn ausgewirkt zu haben“, meint Tiozzo. Beim allseits auch in Schweden beliebten Böll habe man sich „sicherer vor politisch motivierter Kritik gefühlt“.

Auch das ist nur eine Vermutung. Sein Studium der Komitee-Dokumente aus 70 Jahren fasst Tiozzo so zusammen: „Man könnte sagen, dass sie den Literaturnobelpreis entmystifizieren. Denn hinter all dem Prunk und dem Mythos, die von der Schwedischen Akademie selbst und den Medien aufrechterhalten werden, zeigen sie, dass der Kern des Literaturnobelpreises mehr oder weniger aus den Kompromissen eines dubiosen Kreises besteht.“ Hinterzimmer-Deals also.

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