“Kinderraub”-Fakekampagne trifft Schweden hart

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Schweden kommt nicht gegen „Kinderraub“-Fake-Kampagne an

Stand: 07.11.2023,

Von: Thomas Borchert

Im Netz verbreiten sich immer wüstere Videos von angeblichem Kinderraub in Schweden. Angeblich nehmen Sozialbehörden muslimischen Eltern Kinder weg.

Stockholm – Schweden gerät immer tiefer in den Sog extrem verunsichernder und spaltender Konflikte. Nach dem Streit um Koranverbrennungen, staatlicher Hilflosigkeit gegen das Morden von Drogen-Gangs und dem demütigenden Bettelgang Richtung Nato hat Regierungschef Ulf Kristersson jetzt gleich sein ganzes Volk zu aktiver Verteidigung einer eigentlich kleinen Berufsgruppe aufgerufen: „Steht auf für die schwierige und wichtige Arbeit unserer Sozialarbeiterinnen.“ Die rasante globale Ausbreitung einer Fake-Kampagne über angebliches Massen-Kidnapping muslimischer Kinder durch schwedische Sozialbehörden nennt der Premier „höchst gefährlich“: „Wenn die Desinformation radikalisierte und gewaltbereite Menschen erreicht, wird sie zu einem großen Risiko für schwedische Menschenleben.“

Erst drei Wochen sind vergangen seit der Ermordung zweier schwedischer Fußballfans in Brüssel, vom radikalislamistischen Täter begründet als „Racheakt“. Alle dachten dabei als Auslöser sofort an die Serie provokatorischer Koranverbrennungen in Stockholm und anderen Städten. Aber schon im Sommer hatte der Geheimdienst Säpo bei der Anhebung der Terror-Gefahrenstufe von drei auf die zweithöchste Stufe vier die Internetkampagne zum „Massenraub“ muslimischer Kinder in dem skandinavischen Land als hochbrisant verwiesen.

Tiefes Misstrauen gegenüber der Staatsmacht erzeugt zusätzliche Reibung

Sie begann 2021 mit immer wüsteren Geschichten in sozialen Medien, wonach die betroffenen Kinder zwangsweise christlich umerzogen oder gar in die Prostitution geschleust würden. Im vergangenen Jahr geriet das Männer-Ehepaar Johan und John Valencia mit den Adoptivtöchtern Miriam (6) und Astrid (2) in einen Fakenews-Alptraum. Auch weil sie selbst ihr Familienglück ausgiebig in sozialen Medien mit Fotos ausgebreitet hatten, bediente sich ein wahrscheinlich in Ägypten angesiedelter Blogger und ging viral mit einer frei erfundenen Behauptung: Miriam sei einer muslimischen Familie weggenommen und den „zwei Perverslingen“ zur „Umerziehung“ überlassen worden. Als unter anderem auch der TV-Sender Al Jazeera die Lügengeschichte brachte, hatten die Väter keine ruhige Minute mehr.

Wie fast immer bei erfolgreichen Fakekampagnen gab es auch bei dieser hin und wieder ein paar glaubwürdig klingende „Belege“ – etwa im Falle erbittertem lokalen Streits über die Zwangstrennung von Kindern von ihren Eltern. Wie das wohl allerorten vorkommt. Das sehr spezielle schwedische Selbstverständnis vom „guten Staat“ mit seinen tüchtigen „Sozialingenieuren“ und die ganz andere Prägung mancher Zugewanderter mit einem tiefem Misstrauen gegenüber der Staatsmacht erzeugt hier zusätzliche Reibung.

Das Schreckens-Bild von Schweden in der muslimischen Welt

Eine umfassende Analyse aller Fälle 2022 im Bezirk Göteborg durch die Zeitung „Dagens Nyheter“ ergab eine Gesamtzahl von 389 von ihren Eltern getrennter Kinder, davon 40 Prozent aus zugewanderten Familien, die damit in der Statistik tatsächlich überrepräsentiert sind. Das alles ist Lichtjahre von der Behauptung „Massenraub“ entfernt. Aber das Schreckens-Bild von Schweden in der muslimischen Welt erweist sich als zahlenresistent.

Auch für Zugewanderte im Land selbst, die sich im Alltag diskriminiert fühlen. Bei einer Palästina-Demo auf dem Stockholmer Sergels Torg rief ein Redner dem Premier zu: „Ulf Kristersson, klage nicht Palästinenser für das Kidnapping 20 israelischer Kinder an, während Tausende von deiner Sozialbehörde entführt werden.“

„Rede an die Nation“ auf Arabisch

Noch geringer als die Glaubwürdigkeit des absurden Vorwurfs dürften die Aussichten Kristerssons auf Gehör bei den Adressaten der Fakekampagne sein. Seine Minderheitsregierung lebt von der Unterstützung der rechtsextremen und islamophoben Schwedendemokraten. Deren Chef Jimmie Åkesson hat zeitgleich mit dem Appell des Premiers eine „Rede an die Nation“ auf Arabisch mit eigener, von künstlicher Intelligenz erzeugter Stimme ins Netz gestellt. Auch mit einem Appell: „Ich finde nicht, dass du hier sein sollst. Ich finde, du sollst ernsthaft überlegen, woanders hinzuziehen. Für mich bist du nicht willkommen in Schweden.“

In der 2022 zwischen Åkesson und Kristersson vereinbarten Regierungsgrundlage heißt es zum Thema Kinder: „Das Gesetz zur Betreuung von Kindern soll häufiger als jetzt angewandt werden, um Kinder vor Gewalt zu schützen, auch in Zusammenhang mit Familienehre.“ (Thomas Borchert)

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