Month: November 2023
Kurzkommentar zu Schwedens Investition in Atomkraft

Energie-Populismus aus Schweden
Stand: 21.11.2023
Von: Thomas Borchert
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Die Regierung in Stockholm blendet die Risiken der Atomkraft aus und präsentiert sie als Allheilmittel für die Wirtschaft. Das liegt auch an den Ultrarechten im Bündnis. Der Kommentar.
Schwedens Nachbar Finnland ächzt unter enormen Kostensteigerungen und endlosen Verspätungen beim Atomkraft-Neubau Olkiluto. Auch das hält die Stockholmer Regierung nicht davon ab, jetzt riesige Staatsgarantien für den Ausbau der heimischen Kernkraft bereitzustellen.
Bis in die deutsche Ampelkoalition wird über das Für und Wider dieses Wegs gestritten. In Stockholm haben die rechtsextremen Schwedendemokraten, mit der AfD vergleichbar, die Weichen mitgestellt. Als Teil des Regierungslagers präsentieren sie Atomkraft als Rettung vor wirtschaftlichem Abstieg und Wohlstandsverlust. Klimapolitische Ziele spielen bei diesem Populismus so wenig eine Rolle wie das Problem der Endlagerung.
Vergessen scheint auch, dass Schweden sich vor viereinhalb Jahrzehnten als erstes Land der Welt nach einem Referendum von der Atomkraft verabschiedet hatte, weil der Gau von Harrisburg die Risiken gezeigt hatte – und da wusste man noch nichts von Tschernobyl und Fukushima.
Schweden setzt massiv auf Atomkraft

Ausstieg aus dem Atomausstieg: Schweden baut jetzt zehn neue Atomkraftwerke
Stand: 21.11.2023
Von: Thomas Borchert
In Schweden will die konservative Regierung bis 2045 zehn neue Groß-Reaktoren in Betrieb nehmen. Dabei hatte das Volk vor vier Jahrzehnten für ein Atomkraft-Aus votiert.
Stockholm – Schwedens Rechtsregierung macht Ernst mit dem Ausstieg aus dem Atomausstieg. 43 Jahre nach einer Volksabstimmung und dem Reichstagsbeschluss zur Abschaltung aller zwölf Reaktoren kündigt Wirtschafts- und Energieministerin Ebba Busch an: „Schweden schickt sich an, wieder eine führende Atomkraft-Nation zu werden und auch ein Machtfaktor für den grünen Wandel.“ Mit der Inbetriebnahme zehn neuer Groß-Reaktoren bis spätestens 2045 soll die für den Industriestandort Schweden „im Prinzip notwendige Verdoppelung der Stromerzeugung“ bewältigt werden. Dafür will die Regierung Genehmigungsverfahren beschleunigen und stellt 400 Milliarden Kronen (3,5 Milliarden Euro) als staatliche Risikogarantie für private Investoren bereit.
Atomkraft in Schweden für 31 Prozent der Stromversorgung verantwortlich
Das Referendum 1979 und der Parlamentsentscheid ein Jahr später folgten der teilweisen Kernschmelze im US-Atomkraftwerk Harrisburg. Von der geplanten Stilllegung aller vier heimischen Standorte wurde nur die des Atomkraftwerks Barsebäck voll realisiert, weil es in unmittelbarer Nähe der Großstädte Malmö und Kopenhagen platziert war. Heute sind sechs der ursprünglich zwölf schwedischen Reaktoren weiter in Betrieb und stehen für 31 Produzent der Stromerzeugung. Die Wasserkraft liefert 43 Prozent, die Windkraft 20 Prozent.
„Stabiler Zugang zu fossilfreier Elektrizität mit konkurrenzfähigen Preisen ist eine wichtige Voraussetzung für Schwedens Konkurrenzkraft“, teilte die Regierung mit. Der konservative Premier Ulf Kristersson setzt voll und ganz auf die Kernkraft-Karte. Sie soll Deindustrialisierung und Wohlstandsverlust verhindern. Die gut zehn Millionen Menschen im größten Land Skandinaviens kämpfen mit dem krassem Wertverlust ihre Währung Krone, hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit.
Schweden: Konservative setzen auf Energie aus Atomkraftwerken
Vor diesem Hintergrund hatte das bürgerliche Lager im letzten Wahlkampf den Ausbau der Atomkraft versprochen. Damit hatte der Herausforderer Kristersson die sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson ablösen können. Deren Partei tritt zwar auch für die Atomkraft ein, aber eher halbherzig, während das bürgerliche Lager mit großen Versprechungen um Wählerstimmen geworben hatte: Atomkraft garantiere sicheren und billigen Strom, man werde die hohen Spritpreise runterbringen, und es solle Schluss sein mit immer mehr „Wäldern aus Stahl“ – sprich Windkraftanlagen.
Hinter dem Feldzug gegen die Windenergie stehen vor allem die Schwedendemokraten (SD), von deren Stimmen Kristersson als Mehrheitsbeschafferin abhängig ist. Die rechtspopulistische SD wettert schon lange gegen die Energiequelle Wind als Symbol für „Klima-Spinnertum“. Mit Folgen: Im Regierungsprogramm einigte man sich darauf, die kommunalen Einspruchsmöglichkeiten gegen neue Windkraftanlagen kräftig zu erweitern. Und propagierte die Atomkraft als vorgeblich einzig zuverlässige Möglichkeit, sowohl ausreichend sowie billigen und auch CO₂-freien Strom zu erzeugen.
Schwenk bei der Klimapolitik in Schweden
Das Ziel der schwedischen Klimapolitik hat die Regierung deshalb kurzerhand umdefiniert von 100 Prozent „nachhaltig“ auf 100 Prozent „fossilfrei“. Im Zentrum der Debatte steht aber weder diese klimapolitische Weichenstellung noch das ungelöste Problem der Endlagerung radioaktiven Abfalls. Gestritten wird vor allem über die Kosten.
Atomkraft sei viel zu teuer, argumentierten die Sozialdemokraten, bis ihnen das Wahlergebnis und Meinungsumfragen ein Umschwenken schmackhaft gemacht haben. Im Reichstag halten nur noch die Links- und die Umweltpartei an der Anti-Atomkraft-Linie fest. Und selbst die grüne Jugend der „Miljöparti“ findet, dass ohne Kernkraftwerke keine klimapolitischen Ziele erreichen werden können. Als die Chefin des staatlichen Energiekonzerns Vattenfall, Anna Borg, nicht begeistert genug auf die Ausbaupläne der Regierung regierte, sagte SD-Chef Jimmie Åkesson im Interview: „Es ist Zeit, sie auszuwechseln.“
Schwedens Gewerkschaften bestreiken Tesla

Kampfansage an Elon Musk
Stand: 16.11.2023
Von: Thomas Borchert
Tesla-Beschäftigte, Gewerkschaften und Politik wollen den Milliardär in Schweden dazu zwingen, einen Tarifvertrag abzuschließen.
Was als kleiner Streik in zehn schwedischen Tesla-Werkstätten begann, weitet sich nach drei Wochen zum großen Grundsatzstreit aus. Die Gewerkschaften im Norden wollen mit aller Macht den weltweit ersten Tarifvertrag für Beschäftigte im Tesla-Imperium von Elon Musk erkämpfen. Zu den jetzt verkündeten Sympathieaktionen gehört auch die Streikankündigung der IF Metall für einen heimischen Zulieferer der Tesla-Gigafactory in Grünheide bei Berlin. „Da wird es ganz ordentliche Störungen in der Produktion geben, und das ist natürlich der Sinn der Sache,“ sagte Gewerkschaftssekretär Veli-Pekka Säikkälä im Rundfunksender SR.
Die IG Metall unterstützt, jedenfalls mit guten Worten, die Aktion ihrer schwedischen Kolleg:innen. Was die größte Einzelgewerkschaft der Welt für die mehr als 10 000 Beschäftigten in Grünheide bisher nicht durchsetzen konnte, peilt jetzt die Schwesterorganisation für sage und schreibe 130 bei ihr organisierte Werkstatt-Mechaniker:innen an.
Aber es geht eben ums Ganze, wie Säikkälä meint: 1930 hätten Unternehmen und Gewerkschaften in Schweden den Abschluss von Tarifverträgen als Grundlage eines geregelten und friedlichen Miteinanders vereinbart und seitdem nie in Frage gestellt. „Unser Schwedisches Modell müssen wir unbedingt verteidigen.“ Musk äußert sich immer mal wieder als Gewerkschaftshasser.
Im größten Land Skandinaviens decken Tarifverträge 90 Prozent der Arbeitnehmerschaft ab. Auch mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 62 Prozent bewegt man sich hier in ganz anderen Dimensionen als in Deutschland mit 15 Prozent (jeweils 2016). Viel bessere Voraussetzungen also, um Teslas wie überall kategorische Abweisung einer kollektiven Vereinbarung zu Lohn und Arbeitsbedingungen nicht einfach zu schlucken.
Auch ein Novum: Streikbrecher
Die ersten Wochen des Werkstatt-Streiks verliefen trotzdem holprig. Nicht alle Beschäftigten zogen mit, trotz Streikposten vor den Einfahrten konnten teilweise aus anderen skandinavischen Ländern von Tesla herangekarrte Ersatzkräfte den Werkstattbetrieb weiterführen. Auch das ist laut Säikkälä ein Novum: „Seit 1930 hat das niemand mit Streikbrechern so gemacht.“
Den Entladungs-Boykott aller Schiffe mit neuen Teslas an Bord durch die Hafenarbeitergewerkschaft konnte das Unternehmen mit Transporten über Land vom dänischen Esbjerg aus offenbar auch teilweise aushebeln. Ende dieser Woche nun haben gleich neun Gewerkschaften zusätzliche Sympathieaktionen angekündigt. Unter anderem soll der Post- sowie der Versand von Ersatzteilen blockiert und das Netz der eigenen Ladestationen nicht mehr gewartet werden.
Der sozialdemokratische Ex-Premier und Ex-Metaller Stefan Löfven ließ mitteilen, er werde jetzt bei Taxibestellungen einen Tesla-freien Transport verlangen. Überraschender kam die Mitteilung des Vermittlungsdienstes Ynnor für Dienstwagen, dass die Hälfte seiner 120 Unternehmenskunden Tesla derzeit nicht haben wollen. Auch der amtierende Regierungschef Ulf Kristersson, als Konservativer kein leidenschaftlicher Gewerkschaftsfreund, nimmt ziemlich klar Stellung: „Die schwedische Tradition auf dem Arbeitsmarkt spricht eine klare Sprache. Ich erwarte, dass man das hier auf die Weise löst, die bei uns die normale ist.“
Dieser Grundton spiegelt die Traditionen des Industriestaates Schweden mit Sozialpartnerschaft und nur wenigen Streiks dank starker Gewerkschaften wieder. Aushängeschild war dafür auch der urschwedische Autobauer Volvo in Göteborg mit zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Heute gehört Volvo dem chinesischen Geely-Konzern. Das jahrzehntelange Dauer-Abo auf die populärsten Autos hat den Göteborgern der Tesla Y abgenommen, Er ist in Schweden dieses Jahr der meistverkaufte Personenwagen.
Metaller Säikkälä gibt sich als Streik-Koordinator in Schweden siegessicher: „Wir können das hier sehr, sehr lange durchhalten.“ Sein Kollege Dirk Schulz, IGM-Bezirksleiter in Berlin, Brandenburg und Sachsen, hofft per Solidaritätserklärung auf Folgewirkungen: „Euer Streik gibt auch den Kolleginnen und Kollegen in Grünheide Mut und Zuversicht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.“
Das Gegenteil von Deutschland: Schweden straft und ächtet Bordell-Kundschaft
- Schwedens rigide Regeln: Wie das Sexkauf-Verbot wirkt
Stand: 13.11.2023,
Von: Thomas Borchert

Freier und Sexarbeiter:innen müssen mit dramatischen Folgen rechnen, Prostitution ist in Schweden geächtet. Unklar ist, ob sie sich verringert hat.
Stockholm/Frankfurt – Rund 24 Jahre nach Einführung des Sexkauf-Verbots ist man sich in Schweden über eine Konsequenz einig. „Dank dieses Gesetzes findet es bei uns fast niemand mehr okay, Sex zu kaufen,“ lobt Rebecka Andersson von Unizon, der Dachorganisation für Frauenhäuser. Im Reichstag stehen sämtliche Parteien von links bis ganz rechts hinter der 1999 als Weltneuheit beschlossenen Kriminalisierung des Kaufs sexueller Dienste. Damals fanden das nach Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung falsch oder überflüssig. Heute äußern sich 80 Prozent positiv. In Deutschland denkt aktuell die Union über ein Verbot nach, die Grünen sind dagegen.
Schweden ächtet Sexkauf: Auch Prominente stolperten über Vorwürfe
Die Autorin Helena Björk gibt schon mit dem Titel „Socialt uacceptabelt“ ihrer aktuellen Studie über die heimische Prostitutionspolitik zu erkennen, dass auch sie dies für die wichtigste Konsequenz hält. Der spektakuläre Rücktritt eines Spitzenpolitikers veranschaulicht das für sie: Ein einziger Boulevard-Artikel im Jahr 2010 mit der Behauptung einer Frau, der damalige Arbeitsminister Sven Otto Littorin habe sie für Sex im Hotel bezahlt, führte zum Rücktritt binnen Stunden. Sein Regierungschef Reinfeldt distanzierte sich vom Parteifreund. Dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ohne Anklageerhebung einstellte, blieb unbeachtet. Björk dazu: „Die Reaktionen zeigen, wie sehr sich die sozialen Normen verändert haben.“
ImJahr 2020 verwandelte eine „Sexköp“-Razzia der Stockholmer Polizei den TV-Koch, Yogaguru und Schauspieler Paolo Roberto ebenfalls im Handumdrehen vom allseits beliebten Super-Promi zum geächteten Paria. Trotz reuiger Selbsterniedrigung im Interview („Mein Handeln ist das Schmutzigste, Widerlichste, was man einem anderen Menschen antun kann,“) setzten Buchverlag, TV-Sender, Supermarkt- und Fitnessketten ihr Zugpferd sofort unwiderruflich vor die Tür.
Mit so einem will sich niemand mehr gemein machen. Zumal in diesem Fall die junge Frau aus Rumänien mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch noch aus einem armen Land ins reiche Skandinavien geschleust wurde – so wie die große Mehrzahl der auch in Schweden immer noch aktiven Sex-Arbeiterinnen.
Nachfrage nach Sexkauf sank in Schweden – doch an konkreten Zahlen mangelt es
Denn es gibt sie nach wie vor, trotz der ihren Käufern neben Schmach und Ächtung drohenden Bußgeld-Strafe. In schweren Fällen droht sogar Gefängnis bis zu einem Jahr. Schwedens Regierung ist sich dennoch sicher: „Mit der aus dem Gesetz resultierenden Normverschiebung ist die Nachfrage nach sexuellen Diensten gesunken.“ Das liest man zumindest in der Ankündigung für die Ausstellung „Sexkauf ist Gewalt!“, die in Schwedens Berliner Botschaft Ende des Monats über die Prostitutionspolitik informiert.
Stichhaltige Zahlen allerdings finden sich nur schwer als Beleg für einen Nachfragerückgang. Die Stockholmer Gleichstellungsbehörde gibt an, nach der jüngsten Erhebung im Jahr 2017 hätten 1,5 Prozent der Frauen ab 16 schon mal Geld für Sex genommen. Das ergibt bei der Hälfte der Gesamtbevölkerung von gut 10 Millionen Menschen in Schweden eine absolute Zahl von 7.500 – also meilenweit entfernt von den deutschen Dimensionen. Die Frage ist allerdings, wie aussagekräftig eine derartige Umfrage ist. Zum 20. Geburtstag des Sexkauf-Verbots wurde eine andre Vergleichszahl geliefert: Seitdem habe es in Schweden nicht einen einzigen Mord an Prostituierten gegeben, in Deutschland dagegen 70.
Björk gibt in ihrem Buch zu bedenken, dass im Jahr vor der Einführung des Sexkaufverbots nach amtlicher Schätzung 2.500 Frauen sexuelle Dienste verkauft hätten, ein Viertel von ihnen auf der Straße. Das war auch damals schon eine im internationalen Vergleich sehr niedrige Zahl, die noch unter der von heute liegt. Die Gleichstellungsbehörde ist ebenfalls vorsichtig. Sie hat die Koordinierung des staatlichen Einsatzes gegen Sexkäufe übertragen bekommen, weil Prostitution in Schweden mit seinen starken feministischen Fundamenten offiziell als „Gewalt von Männern gegen Frauen“ definiert ist.
Schweden: Prostitutions-„Angebote“ haben sich aufgefächert
Das Amt räumt in seinem letzten Bericht 2021 ein, dass die Schätzung des tatsächlichen Umfangs von Prostitution „mit einer Reihe von Schwierigkeiten“ verbunden sei. Im Klartext: Das Angebot sexueller Dienste hat sich gegenüber dem Bild der klassischen und für alle sichtbaren „Straßenprostituierte“ auf schwer überschaubare Weise unendlich aufgefächert. Davon zeugen Apps zur Anbahnung pädophiler Sexkäufe über Escort-Anzeigen im Netz, Internetseiten für Sugardating und unendlich viele andere Internet-Foren für käuflichen Sex. Schwere Aufgaben für die Polizei. Aber Ermittler und Justiz strengen sich an: Im Jahr 2022 wurden 715 Sex-Käufer erwischt und verurteilt, mehr als doppelt so viele wie im Durchschnitt der voraufgegangenen fünf Jahre.
Einhellig werfen die bei der praktischen Hilfe für Prostituierte aktiven Gruppen Schwedens Regierung vor, sich mit schönen Worten und Selbstlob nach außen zu begnügen. Außer in den drei Großstädten Stockholm, Göteborg und Malmö gibt es laut Björk keine nennenswerten Anlaufstellen für akut hilfsbedürftige und möglicherweise ausstiegswillige Prostituierte. In den Metropolen selbst seien Hilfsprojekte über die Jahre kaputtgespart worden.
Schwedens rechte Regierung denkt an Ausweisungen
Madeleine Snell, Menschenrechts-Juristin bei der Heilsarmee, warnt in Björks Buch vor einem „Kurswechsel beim Blick auf die Menschenrechte von Frauen“ hinter einer sauber feministisch klingenden Fassade.
Alarmierend ist der Strategiewechsel der Regierung, in der Konservative gemeinsam mit den rechtsextremen Schwedendemokraten sitzen. In der Regierungsgrundlage 2022 von Premier Ulf Kristersson wird Prostitution als „fehlerhafter Lebenswandel“ definiert, „als Missachtung der schwedischen Gastfreundschaft“ auf einer Stufe mit gewaltbejahendem Extremismus. Prostitution soll künftig ein Grund zur Ausweisung sein. Für die Frauen ist das eine härtere Strafe als das Bußgeld für ihre Sex-Käufer.
Thomas Borchert
Thise hat Erfolg als symapthischer Bio-Pionier

Dänische Molkerei Thise kämpft mit Käse gegen das Kapital
Stand: 07.11.2023,
Von: Thomas Borchert

Die dänische Bio-Molkerei Thise nimmt es seit Jahrzehnten mit dem Branchenriesen Arla auf.
Dass ganz Dänemark Thise ins Herz geschlossen hat, ist ein bisschen übertrieben. Auf dem Weg vom „Ökospinner“-Projekt einiger sturer Bauern und aufs Land gezogener Hippies zum zweitgrößten Anbieter von Bio-Milchprodukten ist die Genossenschaft dem aber verblüffend nahegekommen. Jetzt hat Thise im gleichnamigen jütländischen Dorf knapp 300 Beschäftigte, machte 2022 1,3 Milliarden Kronen (170 Millionen Euro) Umsatz und lebt doch weiter vom Sympathiebonus als unerschrockener David gegen den heimischen Goliath Arla. Vielen im Land ist der größte Molkereikonzern Europas ein Symbol für extrem intensiv betriebene Agrarindustrie.
Wohingegen Thise seit dem Start 1988 in einer maroden Dorfmolkerei die Selbstverpflichtung zu nachhaltiger Bio-Produktion mit Milch, Käse, Joghurt und anderen Milchprodukten immer wieder erneuert hat. Die 72 genossenschaftlichen Anteilseigner verständigten sich 2021 darauf, ihren Kühen mit acht Quadratmetern mehr Mindestplatz zu geben als die vom Gesetz verlangten sechs Quadratmeter. Seit vergangenem Jahr füttern die Betriebe ihr Milchvieh nicht mehr mit dem Klimakiller Soja. „Wir brauchen eine Landwirtschaft im Zusammenspiel mit der Natur, und die Verbraucher müssen sich darauf einstellen, dass das zu höheren Preisen führt“, begründete Gründungschef Poul Pedersen den Schritt.
Wie gut das funktioniert hat, zeigen die über drei Jahrzehnte oft zweistelligen Wachstumsraten und die Lobeshymnen aus den verschiedensten Ecken Dänemarks. Die Branding-Agentur Loyalty Group konstatiert trocken: „Mit Produktqualität, einer guten eigenen Geschichte und auch der Selbstdarstellung als Alternative zum Großkapital hat Thise einen Brand mit hoher Kundenloyalität geschaffen.“ Claus Meyer, Mitbegründer des weltberühmten Kopenhagener Restaurants Noma, äußert „große Wertschätzung für Thise und vor allem auch für den delikaten Nordseekäse“.
Molkerei Thise wächst mit Bio-Produkten
Über junge Veganerinnen und Veganer sagt Pedersen: „Sie greifen gerne zum Thise-Haferdrink, weil sie von ihren Eltern den positiven Klang unseres Namens in der Wiege mitbekommen haben.“ Natürlich habe man als Produzent tierischer Lebensmittel auch pflanzliche im Sortiment. „Es ist doch klar, dass wir uns, verdammt noch mal, in Zukunft mehr pflanzlich ernähren werden“, sagte Pedersen fröhlich fluchend. Seine Landwirtinnen und Landwirte hätten ja die Rohstoffe dafür. Um dann aber doch vor „falschem Fundamentalismus“ zu warnen: „Ich möchte nicht die Krankenhausrechnungen von Veganern bezahlen, wenn die Knochen zusammenfallen.“ Proteinzufuhr durch Milch sei nun mal unverzichtbar.

Der gelernte Molkerei-Ingenieur, der in diesem Monat in den Ruhestand wechselt, steht für den Thise-Erfolg. Eigentlich sei er ja ein traditionell Konservativer vom Lande, sagt er und gibt zu: „Die wirklich was bewegt haben in Richtung ökologischer Landwirtschaft, das waren die von der Linken.“ So Leute wie Renate Künast, sagt er. Die frühere deutsche Landwirtschaftsministerin von den Grünen besuchte Pedersen letztes Jahr auf der Nürnberger Bio-Lebensmittelmesse.
Markt für Bio-Lebensmittel in Dänemark schrumpfte zuletzt
Daheim stand für die linken Wurzeln Thises auch der langjährige Verkaufschef Mogen Poulsen, der sich selbst als „waschechten 68er“ einstuft. Er war 1973 von Kopenhagen aufs Land gezogen, hatte eine Kuh im Stall und erst mal keine Ahnung von Landwirtschaft. Den erstaunlichen Erfolg der Genossenschaft erklärt er auch damit, dass deren „Draufgängertum“ vor allem der städtischen Kundschaft immer sehr gefallen habe.
Mit Corona und Inflation ist der Absatz von Bio-Lebensmitteln in Dänemark geschrumpft und damit auch der Spielraum für Draufgängertum. Thise setzt knapp die Hälfte der eigenen Produkte exklusiv bei der heimischen Coop-Supermarktkette ab, die in gewaltigen Schwierigkeiten steckt. Im letzten Jahr konnte die Genossenschaft den Milchlieferanten nur einen niedrigeren Preis zahlen als der übermächtige Konkurrent Arla seinen Lieferanten. „Das wurmt mich enorm“, sagt Pedersen in seinem Büro, ehe er dem Fragesteller wieder munter fluchend Optimismus anbietet, zusammen mit Kostproben von Thises Nordsee-, dem Leuchtturm- sowie dem Grubenkäse.
Das bescheidene Büro war vor 68 Jahren auch Pedersens Geburtsort, damals als Schlafzimmer der Eltern über der Dorfmolkerei. Über seinen Nachfolger Svend Schou Borch sagt er, am wichtigsten sei, dass da „ein ordentlicher und emphatischer Mensch kommt“.
“Kinderraub”-Fakekampagne trifft Schweden hart

Schweden kommt nicht gegen „Kinderraub“-Fake-Kampagne an
Stand: 07.11.2023,
Von: Thomas Borchert
Im Netz verbreiten sich immer wüstere Videos von angeblichem Kinderraub in Schweden. Angeblich nehmen Sozialbehörden muslimischen Eltern Kinder weg.
Stockholm – Schweden gerät immer tiefer in den Sog extrem verunsichernder und spaltender Konflikte. Nach dem Streit um Koranverbrennungen, staatlicher Hilflosigkeit gegen das Morden von Drogen-Gangs und dem demütigenden Bettelgang Richtung Nato hat Regierungschef Ulf Kristersson jetzt gleich sein ganzes Volk zu aktiver Verteidigung einer eigentlich kleinen Berufsgruppe aufgerufen: „Steht auf für die schwierige und wichtige Arbeit unserer Sozialarbeiterinnen.“ Die rasante globale Ausbreitung einer Fake-Kampagne über angebliches Massen-Kidnapping muslimischer Kinder durch schwedische Sozialbehörden nennt der Premier „höchst gefährlich“: „Wenn die Desinformation radikalisierte und gewaltbereite Menschen erreicht, wird sie zu einem großen Risiko für schwedische Menschenleben.“
Erst drei Wochen sind vergangen seit der Ermordung zweier schwedischer Fußballfans in Brüssel, vom radikalislamistischen Täter begründet als „Racheakt“. Alle dachten dabei als Auslöser sofort an die Serie provokatorischer Koranverbrennungen in Stockholm und anderen Städten. Aber schon im Sommer hatte der Geheimdienst Säpo bei der Anhebung der Terror-Gefahrenstufe von drei auf die zweithöchste Stufe vier die Internetkampagne zum „Massenraub“ muslimischer Kinder in dem skandinavischen Land als hochbrisant verwiesen.
Tiefes Misstrauen gegenüber der Staatsmacht erzeugt zusätzliche Reibung
Sie begann 2021 mit immer wüsteren Geschichten in sozialen Medien, wonach die betroffenen Kinder zwangsweise christlich umerzogen oder gar in die Prostitution geschleust würden. Im vergangenen Jahr geriet das Männer-Ehepaar Johan und John Valencia mit den Adoptivtöchtern Miriam (6) und Astrid (2) in einen Fakenews-Alptraum. Auch weil sie selbst ihr Familienglück ausgiebig in sozialen Medien mit Fotos ausgebreitet hatten, bediente sich ein wahrscheinlich in Ägypten angesiedelter Blogger und ging viral mit einer frei erfundenen Behauptung: Miriam sei einer muslimischen Familie weggenommen und den „zwei Perverslingen“ zur „Umerziehung“ überlassen worden. Als unter anderem auch der TV-Sender Al Jazeera die Lügengeschichte brachte, hatten die Väter keine ruhige Minute mehr.
Wie fast immer bei erfolgreichen Fakekampagnen gab es auch bei dieser hin und wieder ein paar glaubwürdig klingende „Belege“ – etwa im Falle erbittertem lokalen Streits über die Zwangstrennung von Kindern von ihren Eltern. Wie das wohl allerorten vorkommt. Das sehr spezielle schwedische Selbstverständnis vom „guten Staat“ mit seinen tüchtigen „Sozialingenieuren“ und die ganz andere Prägung mancher Zugewanderter mit einem tiefem Misstrauen gegenüber der Staatsmacht erzeugt hier zusätzliche Reibung.
Das Schreckens-Bild von Schweden in der muslimischen Welt
Eine umfassende Analyse aller Fälle 2022 im Bezirk Göteborg durch die Zeitung „Dagens Nyheter“ ergab eine Gesamtzahl von 389 von ihren Eltern getrennter Kinder, davon 40 Prozent aus zugewanderten Familien, die damit in der Statistik tatsächlich überrepräsentiert sind. Das alles ist Lichtjahre von der Behauptung „Massenraub“ entfernt. Aber das Schreckens-Bild von Schweden in der muslimischen Welt erweist sich als zahlenresistent.
Auch für Zugewanderte im Land selbst, die sich im Alltag diskriminiert fühlen. Bei einer Palästina-Demo auf dem Stockholmer Sergels Torg rief ein Redner dem Premier zu: „Ulf Kristersson, klage nicht Palästinenser für das Kidnapping 20 israelischer Kinder an, während Tausende von deiner Sozialbehörde entführt werden.“
„Rede an die Nation“ auf Arabisch
Noch geringer als die Glaubwürdigkeit des absurden Vorwurfs dürften die Aussichten Kristerssons auf Gehör bei den Adressaten der Fakekampagne sein. Seine Minderheitsregierung lebt von der Unterstützung der rechtsextremen und islamophoben Schwedendemokraten. Deren Chef Jimmie Åkesson hat zeitgleich mit dem Appell des Premiers eine „Rede an die Nation“ auf Arabisch mit eigener, von künstlicher Intelligenz erzeugter Stimme ins Netz gestellt. Auch mit einem Appell: „Ich finde nicht, dass du hier sein sollst. Ich finde, du sollst ernsthaft überlegen, woanders hinzuziehen. Für mich bist du nicht willkommen in Schweden.“
In der 2022 zwischen Åkesson und Kristersson vereinbarten Regierungsgrundlage heißt es zum Thema Kinder: „Das Gesetz zur Betreuung von Kindern soll häufiger als jetzt angewandt werden, um Kinder vor Gewalt zu schützen, auch in Zusammenhang mit Familienehre.“ (Thomas Borchert)
Dänische Regierung zieht Landesverrats-Anklagen sang- und klanglos zurück

Landesverrat-Prozess nach NSA-Affäre: Salto rückwärts in Dänemark
Stand: 02.11.2023, 17:08 Uhr
Von: Thomas Borchert
Die Regierung in Kopenhagen lässt ein Verfahren wegen Landesverrats platzen. Die Anklage gegen Ex-Geheimdienstchef und Ex-Verteidigungsminister stand ohnehin auf tönernen Füßen.
Kopenhagen – Zehn Jahre nach der Enthüllung illegaler Internet-Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA von Dänemark aus versucht sich die Kopenhagener Regierung an einem spektakulären Salto rückwärts. Sie hat über ihren Reichsanwalt die Landesverratsanklagen gegen Ex-Geheimdienstchef Lars Findsen sowie Ex-Verteidigungsminister Claus Hjort Frederiksen sang- und klanglos zurückgezogen. Auslöser ist eine Entscheidung des Obersten Gerichts, das sich gegen den von der Anklage gewünschten kompletten Ausschluss der Öffentlichkeit von den bevorstehenden Gerichtsverfahren aussprach.
Höchstrichterliche Begründung: Die dänische Geheimdienst-Kooperation mit der NSA sei schon 2013 durch den Whistleblower Edward Snowden allgemein bekannt geworden. Weil deren öffentliche Bestätigung durch Findsen und Frederiksen den ausschließlichen Inhalt der Landesverratsanklage bildete, könne kein generelles Geheimhaltungsinteresse geltend gemacht werden.
Dänemark: Ex-Geheimdienstchef nach Landesverrat-Vorwurf überwacht und verhaftet
Diese Entscheidung hat die vor zwei Jahren mit gewaltigem staatlichen Einsatz gestartete Inszenierung eines „Abgrunds von Landesverrat“ wie eine Seifenblase platzen lassen. Ungläubig hatte die dänische Öffentlichkeit kurz vor Weihnachten 2021 verfolgt, dass Findsen als Chef des Militär-Geheimdienstes FE wie ein Gewaltverbrecher von einer Antiterroreinheit des zivilen Geheimdienstes PET festgenommen wurde. PET, dessen Chef Findsen auch schon fünf Jahre gewesen war, hatte ihn vorher ein Jahr lang total überwacht und bis ins Schlafzimmer jedes Wort sowie auch andere Geräusche mitgeschnitten.
Findsen blieb mit dem öffentlich bekannt gemachten Verdacht von „Landesverrat im Verhältnis zu fremden Staaten“ zwei Monate total isoliert in Haft. Das „Wie“ dahinter blieb ein Staatsgeheimnis. Alles in allem hatte Findsen als PET- und FE-Geheimdienstchef sowie zwischendurch auch als Staatssekretär im Verteidigungsministerium zwanzig Jahre dem Sicherheitsausschuss der Regierung angehört. Was hätte dieser Mann nicht alles an Moskau, Peking oder vielleicht sogar Pjöngjang verraten können!
Landesverratvorwurf in NSA-Affäre in Dänemark lässt sich nicht halten
Eine noch bombastischere Dimension verschafften der Affäre die etwas später erhobenen Vorwürfe gegen Ex-Verteidigungsminister Frederiksen, ebenfalls wegen Landesverrats „an fremde Mächte“. Der bullige Rechtsliberale, seit Jahrzehnten einer der machtvollsten politischen Strippenzieher in Kopenhagen, ging relativ schnell mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit, ihm würde einzig die Bestätigung der NSA-Kooperation in ein paar Interviews zur Last gelegt, die doch längst bekannt gewesen sei.
Auch pfiffen die Spatzen von den dänischen Dächern, dass Frederiksen erst in die Mühlen der Justiz geriet, als der Anklagebehörde dämmerte, dass das aus Gründen der Gleichbehandlung wohl unumgänglich war. Bei Findsen schälte sich nach und nach ebenfalls heraus, dass dessen „Landesverrat“ auch für die Staatsanwaltschaft allein aus ein paar Medienkontakten in Hintergrundgesprächen zum Thema NSA-Kooperation bestand. Findsen selbst wies alle Vorwürfe als „vollkommenen Wahnsinn“ zurück.
Dänische Regierung lässt Skandal um Überwachung und Landesverrat von Kommission überprüfen
Der inzwischen pensionierte Politiker Frederiksen weist nach der für den Staat demütigenden Verfahrenseinstellung auf die Rolle seiner sozialdemokratischen Namensvetterin Mette Frederiksen bei dieser Havarie hin: „Die Hauptverantwortung liegt in ihrer Staatskanzlei.“ Die heimischen Medien halten seine Vermutung für zutreffend, dass die im Hintergrund machtvolle Staatskanzleichefin Barbara Bertelsen ihre Finger im Spiel gehabt habe, möglicherweise als Vendetta gegen den mit ihr als Spitzenbeamter ewig über Kreuz liegenden Findsen.
So wurde in Kopenhagen aufmerksam notiert, dass eine Kommission jetzt für das Justizministerium untersucht, ob eventuell „sachfremde Erwägungen“ eine Rolle gespielt haben könnten, als Findsen und – in seinem Kielwasser – Frederiksen als die vielleicht schlimmsten Verräter von Staatsgeheimnissen im Königreich Dänemark an den Pranger kamen. Vielleicht ein nicht ganz zufälliger Glücksfall für die Regierungschefin, dass die rechtsliberale Partei des Ex-Verteidigungsministers inzwischen von der Oppositionsrolle mit Forderung nach gnadenloser Aufklärung zu ihr auf die Regierungsbank gewechselt ist. (Thomas Borchert)
Migrations-Vorbild Dänemark? – “Lass die Finger davon, Deutschland!”

Dänemarks Migrationspolitik: Hauptsache unattraktiv
Stand: 02.11.2023, 17:16 Uhr
Von: Thomas Borchert
In Deutschland werden die Forderungen laut, sich in Sachen Migration am strikten nordischen Nachbarn Dänemark zu orientieren. Unser Korrespondent Thomas Borchert lebt dort – und warnt: Lasst die Finger davon! Ein Plädoyer.
Jetzt soll also die dänische Zuwanderungspolitik Leitstern für Deutschland sein. In meinen Jahrzehnten als zugewanderter Korrespondent war schon des Öfteren zu erklären, ob wirklich und eventuell warum alles so toll funktioniert im sympathischen Dänemark: Ein intakter Wohlfahrtsstaat mit blühendem Arbeitsmarkt und sozialem Frieden, seit einem halben Jahrhundert ausreichend Kitaplätze für die Job-Sicherheit junger Mütter, die rasante Digitalisierung, und dann die Sache mit der allgegenwärtigen Gemütlichkeit namens „Hygge“ beim glücklichsten Volk der Welt. Im Alltag hier gefällt mir das ja auch alles. Fast alles.
Spätestens seit den jüngsten AfD-Wahlerfolgen in Deutschland hat sich in Talkshows, Tweets, Parteitagsreden und Leitartikeln das Narrativ von der dank Härte erfolgreich begrenzten Zuwanderung durchgesetzt. Dänemark habe gezeigt, dass „nationale Lösungen möglich sind“, findet Sahra Wagenknecht. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel empfiehlt schon länger, für Geflüchtete das „Sozialsystem, wie in Dänemark, unattraktiver zu machen“. Friedrich Merz lobt fast täglich die „konsequente dänische Flüchtlingspolitik“, seine CDU verlangt Abschiebezentren „nach dänischem Vorbild“. Altbundespräsident Joachim Gauck zieht den Hut, weil es Kopenhagen mit Zuwanderungs-Härte gelungen sei, „eine nationalpopulistische Partei unter drei Prozent zu bringen“. Im Deutschlandfunk hörte ich einen ob überfüllter Turnhallen verzweifelten Kommunalpolitiker laut grübeln: Die Dänen hätten doch die Flüchtlingszahlen heruntergebracht, „ohne die Menschenrechte preiszugeben.“
Zumindest die Zahlen geben ihm recht. 2022 beantragten an der dänischen Grenze 4597 Menschen Asyl, davon 2070 aus der Ukraine. In Deutschland waren es 244 132 – plus 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge. Pro Kopf der Bevölkerung wird Dänemark in der EU nur von Rumänien, Lettland, Litauen und Polen unterboten. Als Beweis für den Erfolg ihrer „strammen Ausländerpolitik“ wertet die Regierung auch, dass sich nur noch 500 Ausreisepflichtige im Land aufhalten.
Dänemarks Asylpolitik sollte kein Vorbild sein
Bei meiner 99- jährigen Freundin Ulla im Kopenhagener Altenheim fällt mir jedes Mal auf, dass das Personal praktisch ausschließlich aus „nicht-westlichen“ Zugewanderten besteht. Zu dieser in der dänischen Statistik gesondert aufgeführten Gruppe (politisch verwendet als Synonym für „unerwünscht“) gehört auch mein junger Bekannter Akil aus Somalia. Mit besten Dänischkenntnissen ausgebildet als Pflegekraft und begeistert vom ersten Job, wurde ihm plötzlich die Aufenthaltsgenehmigung und damit auch die Arbeitserlaubnis entzogen: Man werde ihn jetzt „heimschicken“, weil ein Teil Somalias wieder sicher sei.
Nach dem Verhör bei der Ausländerbehörde, mit mir als Beisitzer, war für Akil klar, dass er aus seiner Wohnung ausziehen und in einem der von CDU-Chef Merz gewünschten „Ausreisezentren“ demnächst mit Frau und dem gerade geborenen Kind auf die Abschiebung würde warten müssen. Vor ein paar Jahren verschwand die Familie spurlos. Jetzt habe ich Akil per Messenger erreicht und gefragt, wo er lebt und wie es ihm geht: „Gut“, antwortet er auf Deutsch. Die Familie wohnt in einem Landkreis in Hessen, Akil hat Arbeit in einer Fabrik, schreibt er.
Seine Geschichte hat ihren Reiz als Kommentar zu Wagenknechts Lob für Dänemark: Das Land zeige, dass „nationale Lösungen möglich sind“. Stimmt, denn Kopenhagen geht seinen stramm nationalen Weg zulasten anderer EU-Länder. Nach Angaben von „Refugees Welcome“ sind in drei Jahren 419 der 653 Menschen, die zur Abschiebung zwangsweise im Ausreisecenter Kærshovedgård leben, auf diese Weise aus Dänemark weggeblieben.
Bei der Aufnahme verweigert Dänemark ohnehin jede Beteiligung an EU-Schlüsseln zur Verteilung von Flüchtlingen. Als Minister für Immigration und Integration sagte der inzwischen ins Schulressort gewechselte Sozialdemokrat Mattias Tesfaye: „Unser Ziel heißt null Asylbewerber.“
Er bestätigt, was sein Parteifreund Gabriel für Deutschland empfiehlt: „Die Asylzahlen sind bei uns so markant gesunken, weil wir mit unserer harten Ausländerpolitik ein weniger attraktives Ziel geworden sind.“ Gerade erst hat die Regierung eine auf Flüchtlinge zugeschnittene Arbeitspflicht für Sozialhilfe-Empfänger durchgesetzt und die Sätze für nicht arbeitsfähige Menschen halbiert. Im Nachgang des dänischen „Ghettopakets“ von 2018 steht im Stadtteil Bispehaven in Aarhus der Abriss moderner Wohnblöcke bevor, um den hohen nicht-westlichen Anteil der Bewohner:innen zu senken. Genau wie im von Wohnungsnot geplagten Kopenhagen und etlichen anderen Städten
Als ehemaliger Immigrationsminister muss Tesfaye dazu nicht mehr Stellung beziehen und hat seinen Ressortwechsel erklärt: „Man kann das nur eine Zeit lang machen, sondern gehst du daran als Mensch kaputt. Dann wirst du wie Gollum.“ Mit diesem traurigen, immer seltsamer werdenden Hobbit aus „Herr der Ringe“ wollte am Ende niemand mehr zu tun haben. Vielleicht hat Tesfaye auch die Ministerreise nach Ruanda zugesetzt, wo über die von Kopenhagen gewünschte Deportation aller Asylbewerber:innen dorthin verhandelt wurde.
„Negatives Branding“ um sich für Flüchtlinge unattraktiv zu machen
Diese strammen Pläne sind Teil eines „negativen Brandings“ für Dänemark und sollen Flüchtlinge dazu veranlassen, doch lieber ein Nachbarland anzusteuern. „Wenn sich jetzt auch andere dazu entschließen, wird’s natürlich schwieriger. Dann haben wir einen endlosen Wettlauf nach unten zwischen allen,“ sagt Michala Clante Bendixen von „Refugees Welcome“ über den deutschen Wunsch, Dänemark nachzueifern. Als bisher krassesten Auswuchs empfindet sie den 2019 verkündeten „Paradigmenwechsel“. Seither gilt als oberstes Ziel der dänischen Flüchtlingspolitik nicht mehr die Integration hier gelandeter Menschen, sondern deren „Heimsendung“: „Obwohl die Verantwortlichen genau wissen, dass all die Flüchtlinge aus Iran, Irak, Afghanistan, Syrien und Somalia letztlich bleiben werden, verkünden sie als Ziel das Gegenteil.“ Damit mache man sämtliche im dänischen Alltag höchst erfolgreichen Integrationsbemühungen kaputt. Tatsächlich sehen Statistiken etwa zum Bildungsaufstieg von Mädchen und jungen Frauen aus Flüchtlingsfamilien beeindruckend aus.
Aber das „negative nationale Branding“ als politische Triebkraft verlangt immer neuen Brennstoff. Wie das über viele Jahre funktioniert hat, bezeugt Ex-Premier Lars Løkke Rasmussen, inzwischen Außenminister in der großen Koalition: Er habe in falscher Abhängigkeit von den ausländerfeindlichen Rechtspopulisten zu deren Diensten Symbolpolitik betrieben. Als Beispiel nennt und bereut er das weltweit berüchtigte „Schmuckgesetz“, als 2015 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auch in Dänemark ankamen: Sie sollten auf Schmuck gefilzt werden und diesen als Anzahlung auf die Kosten ihres Asylverfahrens abgeben. Es wurde fast nie angewendet, machte sich aber bestens für Schlagzeilen. Als Abschreckung.
Umgekehrt finden auch heimische Kritiker:innen der seit 20 Jahren schärfer werdenden Migrationspolitik manche Maßnahmen sinnvoll. Bendixen ist heute Befürworterin der Zwangsverteilung von Flüchtlingen auf die Kommunen: „Ich war zuerst total dagegen, sehe aber jetzt, dass dies den Betroffenen zu einer besseren Aufnahme außerhalb der Ballungszentren und den nicht so zentralen Orten zu einem besseren Verhältnis zu Flüchtlingen verholfen hat.“ Ich selbst war 2002 empört über das Verbot von Familiennachzug per Heirat für unter 24- Jährige, eine Verletzung von Menschenrechten. Heute erkenne ich an, dass sich dadurch einige junge Frauen besser gegen früh von ihren Familien arrangierten Ehen behaupten können und bessere Ausbildungs- und Berufschancen bekommen haben.
Bei den Wahlen 2015 kletterten die Rechtspopulisten der Dänischen Volkspartei auf 21,1 Prozent als zweitgrößte Partei im kleinen Königreich. 2022 stürzten sie vor allem deshalb auf nur 2,7 Prozent ab, weil die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen der Wählerschaft versprach in der Zuwanderungspolitik mindestens genauso hart aufzutreten wie die Rechtspopulisten.
Dieses Modell empfiehlt nun Gauck als Bremsklotz gegen die AfD. Nach persönlichen Erfahrungen kann ich nur von ganzem Herzen sagen: Lass die Finger davon, Deutschland! Als Bewerber um die dänische Staatsbürgerschaft 2018 konnte ich kaum glauben, zu welch groteskem Verlust demokratischer und rechtsstaatlicher Werte diese Prinzip geführt hat: Wir schlagen die Populisten, indem wir selbst so werden.
Die dänische Sozialdemokratie akzeptiert bei Einbürgerungen, dass Abgeordnete im Parlamentsausschuss Kandidat:innen wegen ihres arabischen Namens abweisen. Sie hat zusammen mit den offen rassistisch Rechten beschlossen, dass in Dänemark geborene und aufgewachsene Nachkommen von Zuwandererfamilien nach ihrem 18. Geburtstag juristisch wie frisch ins Land gekommene Fremde behandelt werden. Diese komplett integrierten jungen Leute, die nie woanders gelebt haben, müssen als Volljährige erst mal eine permanente Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Beim Antrag auf die dänische Staatsbürgerschaft sind dann noch 3,5 Jahre Vollbeschäftigung nachzuweisen. Ausbildung zählt nicht. Damit werden gerade die im Studium Erfolgreichsten unter ihnen im Geburtsland zu Bürger:innen zweiter Klasse degradiert.
Das ist vollkommen irre, finden längst auch Wirtschaftsvertreter:innen, die niemand für moralisierende Gutmenschen hält. Einen „Paradigmenwechsel“ für die massive Anwerbung von Arbeitskräften, etwa für den Pflegesektor, aus Ländern wie Jordanien, Tunesien und Kenia verlangt Brian Mikkelsen vom Gewerbeverband. Klingt alles ziemlich nicht-westlich, genau wie die Herkunftsländer der aus ihren Arbeitsplätzen weggerissenen Zuwanderer aus Syrien und Somalia. Mikkelsen, in früheren Regierungen einst Minister und „Wertekrieger“ an vorderster Front gegen unerwünschte Zuwanderung, warnt jetzt, sein Land dürfe sich nicht als „kleine Stammeskultur“ einigeln. Für den dänischen Kampf gegen Nachwuchs- und Arbeitskräftemangel hat er auch ein Vorbild: „Ein Land wie Deutschland hat das längst erkannt und handelt danach.“